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2019-04-06 05:06:28, Jamal Tuschick

Ece Temelkuran erlebte, wie in der Türkei plötzlich gar kein Platz mehr für die Erdoğan-kritische Publizistin war. Ihr Ausflug in die Diaspora wurde hämisch kommentiert.

British Exit als Menetekel

Was allgemein in dem Schlagwort Populismus zusammengefasst wird, ist ein Kampf der Dörfer als rückwärtige Räume gegen die Städte in ihrer endlos diversifizierenden Geistesgegenwärtigkeit. Die Provinz rebelliert gegen das Tempo der Zeit und den Stress der Optimierung. Ihre Widerstände organisieren ein unterirdisches Oberkommando. Das Ressentiment und die Regression regieren Heerscharen.

Ece Temelkuran, „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist“, aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Hoffmann und Campe, 272 Seiten, 22,-

Der rechte Protest verändert weltweit Gesellschaften. Ece Temelkuran beobachtete die Dynamik nach dem fehlgeschlagenen 2016er-Putsch, als plötzlich in der Türkei gar kein Platz mehr für die Erdoğan-kritische Publizistin war und ihr Ausflug in die Diaspora hämisch kommentiert wurde. Sie spürte den Gegenwind in England, wo die Exilantin den Leuten auf ihren vertrauten Heimwegen leidtat, so als sei die britische Demokratie befestigter als die amerikanische. Nach dem Trumptriumph empfingen Kindergärtnerinnen in der Gegend von Harrisburg im Bundesstaat Pennsylvania die Töchter und Söhne jener Verliererelite, die Bernie und Hillary gewählt hatten, mit Da-müsst-ihr-jetzt-durch-Spott. Es bedurfte keiner Bekenntnisse, die Arbeitsplätze in Academia indizierten die Niederlage.

Das Dazwischen schrumpft wegen des beidseitig geforderten Zustimmungsfurors.

Temelkuran schildert einschlägige Erlebnisse von Freunden auf drei Kontinenten. Die Gewährsleute erleben den Einzug der Gladiatoren, deren konfrontativer Gestus eine Epoche profiliert, in der Parteien ihre Bedeutung verlieren und Bewegungen in Gang kommen, die Gesellschaftsordnungen kollabieren lassen können. Temelkuran erinnert an den Anfang von Erdoğans Partei gewordene Bewegung „für Gerechtigkeit und Aufschwung“. Deren Parteigänger*innen nennen sich „die Tugendhaften“. Ihrem Führer folgen sie mit religiöser Leidenschaft. Als ihr Präsident sie in der Putschnacht des 15. Juli 2016 auf die Straßen des Landes rief, kamen sie zuhauf und in Scharen. Das waren Scharen in Schlafanzügen. Sie traten gegen die Panzer der Putschisten und verfluchten die zum Umsturz befohlenen Rekruten. Sie verkörperten und verkörpern das Anti-Taksim-Programm. Auch Taksim war und ist Bewegung im Spektrum der Neuen Sozialen Bewegungen. Ein Slogan lautete: „Wir wollen der Welt zeigen, wie schön wir demonstrieren können.“

Ece Temelkuran brachte es vor ein paar Tagen in der Volksbühne auf den Punkt:

„Wir sind anders – Wir sind keine Partei, sondern eine Bewegung.“

Das schreibt sie auch in „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur“. Sie ist gewiss das, was Jagoda Marinic eine Shero nennt.

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt und erschien 2014 im Atlantik Verlag. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

Temelkuran beschreibt die Bedingungen, in der eine Demokratie verdirbt. Zu der sämtliche Totalisierungsprozesse befeuernden Regression zählt die Fiktionalisierung der Wirklichkeit. In diesem Kontext gewinnen Verschwörungstheorien die Bedeutung von Erkenntnissen. Man subsumiert eine wissenschaftliche Erklärung unter „die vielen Narrative, als eine von vielen Wahrheiten“. So wird die Realität zur Standortfrage in Abhängigkeit von der Intelligenz. Das macht aus jeder rationalen Einrede schiere Gegnerideologie.

Die und wir sehen die Welt eben mit verschiedenen Augen. Aber wir haben mehr Augen.

Hat man sich an diesen Vexierspiel gewöhnt, mögen einem Wahlfälschungen als eine aus dem freien Spiel der Kräfte geschöpfte Möglichkeit erscheinen, sich politisch zu positionieren. Doch auch ohne kriminelle Energie ergeben sich in einem Klima der faktenfreien Beurteilungen Chancen für den Irrsinn. Nach dem Referendum staunten Briten, die von einer Willensbekundung aus Bequemlichkeit Abstand genommen hatten, auf Facebook mit folgendem Tenor: „Ich konnte ja nicht ahnen, dass die Leute das Referendum ernstnehmen würden.“

Wenig schützt Demokratien vor Populismus. Die Anfälligkeit zeigt sich in Großbritannien einer Bevölkerung, die sich dem Menetekel zum Trotz für gefeit hält. Temelkuran gibt ihr wie dem Rest zu bedenken: Selbst wenn die auf dem Staatsdeck waltenden Demagogen wie von der Hand einer Zauberin ihre Macht verlören, so gäbe es doch weiterhin weltweit deren Anhänger*innen.