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2022-06-16 08:07:33, Jamal Tuschick

Ece Temelkuran vor dem Roten Salon der Berliner Volksbühne © Jamal Tuschick

Neue Form des Faschismus

Ece Temelkuran im Gespräch mit Dilek Güngör © Jamal Tuschick

Keine mediterrane Eskapade

Temelkuran fragt sich, wie „ein Flohmarkt des zusammengebrochenen Kapitalismus“ aussähe. In Silvio Berlusconi erkennt sie den Schrittmacher und Wegbereiter des neuen Faschismus. Als man Berlusconis politischen Durchmarsch allgemein noch für ein Intermezzo und eine „mediterrane Eskapade“ hielt, habe Italien „als erstes europäisches Land die scharfe geschichtliche Wende“ vollzogen.

Nicht mal mehr küssen

In ihrer Analyse „Euphorie und Wehmut“ erinnert Temelkuran an den Anfang von Erdoğans Partei gewordene Bewegung „für Gerechtigkeit und Aufschwung“. Deren Parteigänger:innen nennen sich „die Tugendhaften“. Ihrem Führer folgen sie mit religiöser Leidenschaft. Als ihr Präsident sie in der Putschnacht des 15. Juli 2016 auf die Straßen des Landes rief, kamen sie zuhauf und in Scharen. Das waren Scharen in Schlafanzügen. Sie traten gegen die Panzer der Putschisten und verfluchten die zum Umsturz befohlenen Rekruten. Sie verkörperten und verkörpern das Anti-Taksim-Programm. Auch Taksim war und ist Aktivismus im Spektrum der Neuen Sozialen Bewegungen. Ein Slogan lautet: „Wir wollen der Welt zeigen, wie schön wir demonstrieren können.“

Taksim-Trennungen

Eine Freundin der Chronistin ließ sich scheiden, weil ihr Mann, ein Hedgefonds-Manager, sich jenem Widerstand verweigerte, den die Welt mit einem Istanbuler Park assoziiert. Allerdings tauchte der Trennungsgrund in der offiziellen Liste nicht auf, da er (offenbar) peinlicher war als ein Eingeständnis von schlechtem Sex. Die reaktionäre Zurückhaltung des Finanzhais löste im Endspiel der Ehe „Ekel“ bei der Gerade-noch-Gattin aus.

„Ich (konnte) ihn nicht mal mehr küssen.“

„2013 gingen die Ehen und Beziehungen mehrerer Freunde und Bekannter … aus den gleichen Gründen in die Brüche.“

„Würstchen“ nennt Temelkuran jene, die sich „in ihren Burgen verschanzen“, aus Angst vor einer rau aufschäumenden Wirklichkeit. Offensichtlich ist der Appellcharakter ihres aktuellsten aktivistischen Abrisses. Die Autorin wirbt für eine engagierte und beteiligungsfrohe Haltung. Sie beschreibt die Bedingungen, in der eine Demokratie verdirbt. Zu der - sämtliche Totalisierungsprozesse befeuernden - Regression zählt die Fiktionalisierung der Wirklichkeit. In diesem Kontext gewinnen Verschwörungstheorien die Bedeutung von Erkenntnissen. Man subsumiert eine wissenschaftliche Erklärung unter „die vielen Narrative, als eine von vielen Wahrheiten“. So wird die Realität zur Standortfrage in Abhängigkeit von der Intelligenz.

Temelkurans Betrachtungen vereinen Scharfsinn mit Sendungsbewusstsein und Sentimentalität. Die in der Türkei geschasste und in die Umlaufbahn der Weltbürgerschaft gefeuerte Autorin kassierte die Höchststrafe für Journalist:innen. Hundert Jahre Ruderdienst auf einer Galeere der Wahrheitsfindung.

Dazu bald mehr.

Ich erinnere an einen älteren Titel der Autorin

Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann. Der Titel variiert ein Zitat der russischen Feministin Emma Goldman: If I Can‘t Dance, I Don‘t Want To Be Part of Your Revolution. Die interne Revolte individualisiert vier Frauen im Arabischen Frühling. Der Zufall hat sie in Tunis zusammengewürfelt. Gemeinsam reisen sie in das schwer erschütterte Libyen. Die Älteste beherrscht die kleine Gesellschaft im Land der Imazighen. Madame Lilla beruft sich auf die Macht eines Liebhabers vergangener Tage. Der greise Verehrer gehört zum Volk der Tuareg. Sein Gesicht ist indigoblau.

Ece Temelkuran, „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann“, aus dem Türkischen von Johannes Neuner, Roman, Atlantik Verlag, 22,-

Aus der Ankündigung

Eine Handlungsanleitung für ein würdevolles Leben auf unserem Planeten

Die vielfach ausgezeichnete Autorin Ece Temelkuran blickt auf unsere Gegenwart: Ratlosigkeit und Verzweiflung, Würdelosigkeit, wohin man schaut. Schluss damit, fordert sie und fragt: Was tun? Wille und Würde ist ihre Antwort, eine Handlungsanleitung in zehn Schritten, voller Optimismus und Hoffnung.

Unsere Welt befindet sich in einer Schräglage. Die Gesellschaften leiden unter frappierenden Ungerechtigkeiten. Waldbrände und Überschwemmungen liefern den letzten Beweis für die verheerende Klimakatastrophe. Die Pandemie zeigt, wie prekär die Volkswirtschaften sind, und der chaotische Truppenabzug aus Afghanistan deckt schonungslos auf, wie verantwortungslos mit Menschen umgegangen wird. Die Machthaber ringen nach Antworten, oft sind sie selbst das Problem.

Wohin mit unserer Verzweiflung? Ece Temelkuran legt mit Wille und Würde ein klares neues Narrativ vor, nicht für eine idealisierte Zukunft, sondern für die Gegenwart, eine Aufforderung in zehn Schritten. Es gilt jetzt, unsere Würde wiederzufinden. Dafür müssen wir entschlossen handeln, Kraft schöpfen aus der Angst und Vertrauen gewinnen. Für eine Welt, in der Menschlichkeit an erster Stelle steht.

Zur Autorin

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Sachbücher Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur (2019), Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).