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2022-05-22 06:28:05, Jamal Tuschick

Das Meer ist nah, der Strand ein lyrischer Streifen.

In der Hügelheide von Carn Uí Néid mit seinen Megalithmysterien bei Barley Cove mischt sich Kiana unter Fischfabrikarbeiterinnen und macht sich da unauffällig. © Jamal Tuschick

Megalith Mysterien

Überall schreibt sie ihren Namen hin oder ritzt ihn ein. Gedichte entstehen im Vorübergehen. Das sind kleine Wackelreime zuerst. Nach einer Razzia im Schlafsaal des Kinderheims brennt der lyrische Mehrwert des frühen Unglücks im kalten Fegefeuer vereister Nonnen. Den Frostigen folgt ein alter Kühlschrank als Ziehmutter. Kiana unterstellt der Fürsorgerin (mit einem Stall voller „Heimrotz“; für jedes Mündel bekommt sie einen Batzen) eine delikthafte Gleichgültigkeit. Das Mädchen flieht, wird aufgegriffen und flieht wieder, bis man sie laufen lässt. In der Hügelheide von Carn Uí Néid mit seinen Megalithmysterien bei Barley Cove mischt sie sich unter Fischfabrikarbeiterinnen und macht sich da unauffällig.

Der Tod schiebt Akkordschichten. Seine alltäglichste Beute strömt durch Klingen. In der Manier eines Mobs schlachten lebenswütig und aufgestachelt zusammengelaufene Frauen den Fisch wie im Rausch ab. Kiana salbt die Ernte mit Salz, in Szenen wie von Sergei Eisenstein. Die Nächte sind im Flutlicht taghell. Ein weiblicher Mundschenk flößt Schnaps ein. Sie murmelt Uisge Beatha - Lebenswasser und Fear Fiadhaich. Die Arbeiterinnen können nicht selbst ansetzen. Die Abläufe geben keiner Unterbrechung Raum.

Kiana stößt sich, wo sie steht und geht. Nichts passt, alles klemmt. Der Welt erscheint sie als wandelnder Tafelberg. Sie spielt Gulliver beim Studium der Hyposomie. Nie ist sie sich zu schade für eine Schlägerei. Kaum je geht sie blessiert vom Platz. Sie beruft sich auf eine alte, in Kneipentische geritzte Ordnung.

Das Meer ist nah, der Strand ein lyrischer Streifen.

*

Ab 1969 nomadisiert Kiana in Kontinentaleuropa.

In der Hochzeit der Barrikaden, Kaufhausbrände und Puddingattentate macht die schweigende Mehrheit Kulturrevolution. Im Oktober Neunundsechzig wählen Deutsche den ersten sozialdemokratischen Kanzler seit 1930. Die Zeit der parlamentarischen Langeweile ist vorbei, als sich dreißig Abgeordnete der „Pünktchenpartei“ FDP zur SPD schlagen. SDS-Vorsteher Hans-Jürgen Krahl kommentiert den Brandt im Kanzleramt.

Krahl will einer „verknöcherten Republik die Krücken wegtreten“. Willy rät zum Wandel durch Annäherung. Er reist nach Erfurt, um ein neues Kapitel in der Ostpolitik aufzuschlagen.

Wie kommt Kiana in den Kanzlerzug?

Im April Sechsundachtzig befiehlt Reagan die Operation El Dorado Canyon. Seine Luftwaffe bombardiert Libyen. Eine Serie restlichtverstärkter Bilder ersetzt den Zuschauerinnen die Realität und erzeugt ein neues Design der Wüstenkriegsberichterstattung. Es folgt das Menetekel Tschernobyl, Kiana lebt mit ihrer Tochter Mailin und dem Serben Drago, einem Mann des gebeizten Karos, im Nordend. Kiana trennt sich von Drago, der dann noch lange nicht einschlafen kann, ohne ein getragenes T-Shirt von Kiana anzuhaben oder vor seiner Nase zu kneten.

Wer sich trennt, muss ausziehen.

Beim Auszug verliert Kiana die Fernbedienung. Von da an steht der heilige Fernseher in ihrer Reichweite neben der Matratze.