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2022-05-18 06:27:04, Jamal Tuschick

Atemloser Stil und maßlose Stille

„In seinen lichten Momenten überschätzte er seine Gleichgültigkeit.“ Joseph Conrad, „Lord Jim“

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„Alles ist bösartig, kraftlos, unbegabt und erstaunlich wenig überzeugend.“ Isaak Babel 1920

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„Ich fand merkwürdige Concepte seiner … Gedichte mit vielen Correkturen.“ Eduard Mörike über Hölderlins Nachlass aus der Hand von Hölderlins Schwester Marie

© Jamal Tuschick

Jonna von Stellberg liest Joseph Conrads Roman „Lord Jim“

Bedürfnisloser Mut

Den halb entlaufenen und halb ins Ungewisse gestoßenen Pfarrerssohn lenkt die Verachtung jener, denen es gegeben ist, „inmitten von Fährnissen zu glänzen“. Das zeigt sich zuerst auf einem Schulschiff der Handelsmarine.

Der nachnamenlose Debütant mit dem anonymisierenden Rufnamen Jim glaubt, er sei so stark und stumpf wie ein walisischer Ackergaul. Unerschrocken bereist er Regionen, „die seiner Phantasie bereits vertraut sind“.

„In seinen lichten Momenten überschätzt er seine Gleichgültigkeit.“

Sein bedürfnisloser Mut isoliert den Helden in Joseph Conrads Roman „Lord Jim“ von der Gier, die das Dasein Vieler bestimmt und der braven Bereitschaft, sich wie jedermann korrumpieren zu lassen. Aus Höflichkeit der Menschheit gegenüber will man nicht aus dem Rahmen der moralischen Gewöhnlichkeit fallen.

Jims Weg ist vorgezeichnet. Erfahrene Navigatoren kennen die Route lange vor Jim. Er trägt ein nicht für jeden sichtbares Kainsmal, dass das totale Scheitern signalisiert, während die meisten eine „ungebrochene Energie, das Temperament (des Briganten) und die Augen (eines) Träumers“ bemerken.

„Eingestimmt auf die ewige Stille des östlichen Himmels“, verweigert sich Jim „einem rigiden (kolonialen) Pflichtverständnis“. Er heuert an auf einem Seelenverkäufer, „schmal wie ein Windhund“, und unterstellt sich dem Kommando eines unangenehmen deutschen Skippers.

Conrads nautisch-magischer Realismus nimmt Jonna von Stellberg gefangen. Jeden Tag wählt die Letzte einer vor hundert Jahre an Land gegangenen Dynastie schiffführender Kommandanten ihre Empore unter sieben Schreibplätzen im Skipperhus. Jonna hat ihre Familie über die Stasiklinge springen lassen. Sie läuft beinah ihr Leben lang an einer Netzwerkleine. Nenntet ihr sie eine privilegierte Sklavin; ich würde nicht widersprechen.

Als 1833 in Großbritannien die Sklaverei abgeschafft wurde, fand es die Krone angebracht, die sechsundvierzigtausend Sklavenhalter auf den Inseln ihrer Besorgnis zu entschädigen. Die Kompensationen folgten einem Rechtlichkeitsbegriff, der sich bis heute aus unserem Verständnis nicht verabschiedet hat. Nach Hegel übersteigt das „Dasein des freien Willens“ juristisches Recht. Es erfasst sämtliche Freiheitsgrade. Folglich ist ein Mensch außerhalb des Rechts als lediglich wollendes Subjekt „nicht berechtigt“. Seine Ansprüche stecken in utopischen Floskeln. Zu den Infamien der Welt zählt, dass Gesellschaften den Standpunkt einer systematischen Entrechtung einnehmen können, ohne offensiv rassistisch zu wirken.

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Jonna spähte ihre Mutter aus. Sie durchforstete die Fächer für Leibwäsche. Das eingefrorene Erstaunen über manches Fundstück; nur vorübergehend aufgetaut vom eigenen Sturm & Drang; dann gleich wieder eingeschlossen im Permafrost der Sterilität. Jonna wischte der schließlich Hinfälligen den Arsch. Sie wechselte Windeln. Vertrauensvoll trat die Mutter an die Stelle der Tochter. Auf die Wahrheit kam es vielleicht gar nicht mehr an. Jonna hätte die Alte nicht zärtlicher wiegen können, wäre sie loyal gewesen.

Sie trinkt ihren Tee. Nebelbaldachine über dem Bodden. Jonna registriert einen herbstlichen Moment mitten im Sommer. Manchmal sieht sie Wolkenmantas, Stampeden von Flugrochenherden in der himmlischen Prärie.

Die kürzeste Nacht des Jahres steht an.

Kasper von Roßbach erbittet greisen-gaga-launig via SMS eine Audienz. Jonna wimmelt den westdeutschen Liebhaber ab. Seine leicht verklebte Art ödet sie seit ein paar Tagen an. Sie will nicht länger Kaspers inkontinenten Altherrenverstiegenheiten Modell stehen. Ach, wäre er ein Möricke nur.

Für Mörike war zur Sichtung der Stücke - in der Freiheit einer „ungestörten Musterung - … ein Stübchen“ eingeheizt worden. Da blieb er sich selbst überlassen, „nur hie und da kam eines der Mädchen auf eine Viertelstunde mit dem Strickzeug herauf“.

Die Abwechslung nennt Mörike eine „nöthige Ableitung“ (Original- Schreibweise).

Phonetische Hürden

Die Nord-Stream-Putztruppe hört auf das Kommando von Sina Schleswig. Unter einem zugezogenen Himmel vollzieht sich in einem Boddenwinkel eine Urszene der Konspiration, just an der Stelle, wo Sina zum ersten Mal an einer Zigarette zog.

Du Tochter einer Kassiererin warst stets das Kind mit dem niedrigsten Erlebnishorizont. Dir graute am Sonntag schon vor der Wochenendberichterstattung als einem peinlichen Stuhlkreisgeschehen an jedem Montagmorgen in der Schule. Für nichts reichte das Geld deiner desolaten Mutter. Andere bangten begeistert auf Ole Petermanns (ein Cousin des als Tillwitzer Hoffotografen akkreditierten Spanners Olm Petermann) durchgesessenen Ponymähren. Oder sie ergaben sich einer Gaumensüße auf Karls Erdbeerhof. Oder lernten Kitesurfen am Zingster Strand auf dem Darß. Die Zurücksetzungen ließen Sina frostig werden. Ihre Spezialität ist der lyrische Fäkalschmäh. Die Beleidigungen treiben als satirische Zuspitzungen auf. Wer etwas auf sich hält, versteht die Pointen.

Sina befehligt die Nord-Stream-Putztruppe. Sie ist Kolonnenführerin der Bodenmarkierer, Plakateure, Flugblattverteiler und Klapptischtransporteure. Jederzeit kann sie eine SPD-Aktion simulieren, oder einen freien Hein Schmier der Mecklenburg-Vorpommerischen Allgemeinen nach Tillwitz zu einer (nachhaltig Ressourcen schonenden) Vegan-Sause zitieren, um ihm vor Ort zu diktieren, was Sinas Chef Geronimo Mansfeld aka Putins Peitsche im Käseblatt zu lesen wünscht. Mit dem Willen zur richtigen Aussprache spricht der Ex-HVA-Major Fremdwörter besonders falsch aus. Savoir-vivre ist ein Zungenbrecher. Savoir-vivre hat man nicht zu haben. Gero stürzt förmlich über phonetische Hürden. Der Fisch aus der Konserve genügt nicht nur, vielmehr gibt es nichts Besseres. Dies als verbindliche Ansage direkt an der Steilküste und vor den Fanggründen. Das ist Wahnsinn und hat Methode. Dazu kommen alle möglichen NVA-Latrinenmenetekel.

Die Haltbarkeit von Lebensmitteln in Büchsen ist ein unerschöpfliches Thema. Millionär Mansfeld ereifert sich zurück in die Mangelwirtschaft.

Vielleicht verstehen Sie gar nicht, was da gerade passiert. Gero impft Sina im Geist einer von den Toten wiederauferstandenen DDR. Wir wollen es den Wessis zeigen. Wir drehen die Pfeifen auf links. Wir ziehen den Schnöselstecker.

Sina bewundert Gero. Sie ist stolz auf ihren Platz im Gefüge.

Schauen wir kurz bei Vanessa Ehrlich vorbei

Sie weiß, wie man ein exorbitantes Trinkgeld ergattert. Das Glas Champagner als Exklusivitätssignal im Selfcare Kontor Ahrenshoop begleicht jede Kundin, ohne dass der Willkommensschluck auf einer Rechnung erschiene. Die Irritation eines Wimpernschlags, ein scheinbar von der Faszination losgeschickter Blick, ein erotischer Hauch, der wie Nebel über dem Tonfall aufsteigt: das reicht, um einen guten Job zu machen und ein gutes Leben zu haben.

Nach ihren eigenen Begriffen schwitzt die Physiotherapeutin im Tagebau der Tourismusbranche. Den ersten Sonnengruß absolviert sie vor Sonnenaufgang. Nur im Sommer zieht sie ihr Abendprogramm im Hellen durch. Ihr optimierter Körper ist die beste Werbung. Viele Kundinnen wollen aussehen wie Vanessa.