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2022-05-12 08:19:47, Jamal Tuschick

„Während wir aus Angst um unseren Wohlstand Putins Krieg mitfinanzieren, hat England das Speiseöl rationiert.“ Aus der WELT von gestern

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Nach dem Timbre und der Lautstärke … lässt sich der emotionale Zustand des Menschen beurteilen.“ Zitiert nach Ines Geipel

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„Der Mensch ist nach wie vor das … biegsamste … Glied in einem Steuersystem.“ Hans Haase

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„Ein Kroate mag sich in Venezuela als Russe ausgeben können, in Russland wird er damit nicht weit kommen.“ Matti Friedman

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„Theater“, sagt Heiner Müller „ist Verwandlung. Die Angst vor der letzten Verwandlung (dem Tod) ist allgemein. Darauf kann man bauen.“

Wolfgang Thierse vor Jahren im Berliner Brechthaus © Jamal Tuschick

Boddendrache

Mit neun passten ihr die Reitstiefel einer Tante, die Turnierreiterin war. Ein von der Tadellosen aufgegebenes Paar trug Michaela voller Stolz, solange es eben ging. Die ganze Familie lebte in einem Zustand, der in Beschreibungen stets nur angetippt wurde. Ein leicht dahin gesagtes Wort mit Zauberkraft war Reiterei. Ein anderes, Lagerfeuer.

„Wir existierten wie ein Stamm in der Reiterei und zwar auf dem Territorium der Koppel.“

So hieß der Stammsitz im Familienmund. Daran denkt die Expatriierte im Darßer Urwald. Sie verweilt am Saum der ursprünglichen Uferlinie, wo vor dreitausend Jahren (bis zu einem Strömungsumschwung) Ostseewellen aufliefen.

Michaela ist die älteste Enkelin der Dynastie-Chefin und deren designierte Nachfolgerin. Michaelas Großmutter firmierte als La Jefa, auch der Gatte und die Kinder sagten Chefin.

Michaela wähnt sich unbeobachtet in einer Galerie vom Wind gedrückter Kiefern auf dem alten Kliff. Ungeniert nimmt sie die Hockpissstellung ein. Sie sieht malerisch gewachsene Buchen, Fichten, Eiben, Lärchen, Douglasien und Erlenbrüche. Das Wasser steht im Unterholz wie in den Everglades.

Moderner Geheimrat

Sina Schleswig beobachtet die Westdeutsche mit der unverschämten Bugwelle im Auftrag des ehemaligen (aber was heißt schon ehemalig?) HVA-Majors Geronimo Mansfeld. Sina schätzt sich glücklich über ihren direkten Draht zum Geheimrat der Schweriner Regierung. Mansfeld hat seine eigene Organisation nach dem Vorbild der Organisation Gehlen aufgezogen. Das sagen die einen aus der Riege der Bescheidwisserinnen. Andere behaupten, im Mecklenburg-Vorpommerschen Landesamt herrsche die Stasi.

Aus dem Off

Wir schreiben das Jahr 2014. Michaela von Hallweg berät den Tillwitzer Bürgermeister Otfried Vrunt. Oti untersteht Gero.

Wem aber untersteht Mansfeld? Kriegt er seine Befehle direkt aus Moskau?

Dazu später mehr.

Die Volksstasi- und Tierwohl-Aktivistin Sina pfeift aus dem letzten Loch der einfallslosen Armut. Sie haust in einem Lehmbau im Althagener Forst. In den Wänden sind faustgroße Löcher, aus denen Mäusedreck rieselt. Der ursprüngliche Baustoff ist immer wieder eingesetzt worden, die Wände archivieren den zur Dämmung taugenden Abfall von Epochen.

Sina und ihr Combatiente Jan-Freimut Krewehl frieren von September bis Mai wie die Schneider. Das Tierasyl funktioniert im Notbetrieb. Tillwitzer und Dändorfer Wohltäterinnen schicken ihre Kinder mit Futter vorbei. Mitunter ist etwas darunter, dass für Menschen Nahrung sein kann. Kriegt Sina einen Ausschlag, kommt keine Versicherung für den ärztlichen Dienst auf.

Ihr wird geholfen. Allmählich versteht Jan-Freimut, warum er nach Jahren des flüchtigen Flirts, lunarer Berührungen und heißer Augenblicke auf Festen und Konzerten von Sina in eine Bindung gezogen wurde.

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Not macht erfinderisch. „Ein Freund liebt allezeit, und als ein Bruder wird er in der Not erfunden“, heißt es nach Luther in der Bibel. In Anbetracht der Schwierigkeiten, in denen Sina steckt, stellt sich die Frage, wie lange noch will Jan-Freimut ihr Hüter sein?

Soziale Sümpfe und seelische Moore sowie pittoreske Aussichten auf eine Vegetation aus niedrigen Beweggründen. Die toten Alligatoren des Neides ... unter solchen Umständen ist der Aktivismus ein rettendes Ufer und Sexualität ein Strohhalm.

Sina astet hinter der Zielperson her, quer durch den Wald. Die Verfolgerin sucht ständig Deckung, sie beißt ins Gras, da Michaela Gründe findet, sich elegisch-gründlich, meinetwegen auch manieriert oder prätentiös umzuschauen, ohne jeden Verdacht.

Lebensfreude gebiert Schaulust.

Michaela weiß gerade gar nichts von den Trauerspielen des Lebens. In ihrem Hinterkopf zwitschert ein Vögelchen das Lied vom Begehren des Bürgermeisters. Der alte Boddendrache Oti verzehrt sich nach seiner Ratgeberin, dieser Rakete des Fortschritts. Mit ihr will er Ahrenshoop überflügeln und in den Schatten von Tillwitz stellen. Wohnt er seiner Frau bei, stellt er sich vor, wie Michaela in seinem Büro ihre Zurückhaltung verliert und die Noblesse eine Froschhaut bekommt.