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2022-04-22 07:12:49, Jamal Tuschick

„Gehen Sie nicht in sich. Da ist nichts.“ Heiner Müller in einem Interview mit André Müller 1987

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Es gibt sogar reaktionäre Äpfel in den frühen Gedichten, alles wird gereimt und geschüttelt, mal nach Brecht und mal nach Bolle. Zehn kleine ... plus Dialektik und backe, backe Kuchen. Da ist einer: der entschuldigt sich für seinen Schatten. Der applaudiert bei jeder Gelegenheit. Der wird zum Wackeldackel im Amöbenstadium des Opportunismus. Das ist nicht Heiner Müller. Aber Müller sieht ihn. Er sieht den Ansturm des Lebens als eine Gleichgültigkeit gegen den Abgrund moralischer Inkontinenz. Dieses Versagen stiftet eine Sehnsucht nach dem Jüngsten Tag auf kommunistisch.

„Müller hat auf den Kommunismus gewettet wie Pascal auf den lieben Gott“. Peter Hacks

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Für Michel Serres sind Mythen nicht bloß geronnene Erfahrungen, sondern Informantinnen eines Vorwissens. Mythen sind in dieser Deutung (der Menschheit) vorgesetzte Wahrheiten.

© Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Skipperhus

Was zuvor geschah

Die aus Tillwitz an der Ostsee gebürtige, in ihrem Geburtshaus verschwiegen-munter verbliebene Jonna von Stellberg war bis 1990 Kostümbildnerin an einem Rostocker Theater. Sie machte sich dann zweigleisig als Unternehmerin und als DDR-Dramatik-Expertin flott. Ihren Lebensunterhalt bestreitet Jonna mit Einnahmen aus Vermietungen und Verpachtungen, auch wenn sich in der Agentur Stellberg länger schon Vilde Fisker um das operative Geschäft kümmert. Die Hand auf viel Geld legte Jonna, als die Tillwitzer Seefahrerschule in Ferienwohnungen umgewandelt wurde. Die Nachfrage treibt die Preise ins Sagenhafte.

Sperrwerke aus engmaschigen Zugehörigkeitsbegriffe distanzieren fremde Akteure. Jonna profitiert von Manövern ehemaliger Stasi- und HVA-Schlapphüte, die wir aus dem Nord-Stream-Business und so auch aus der Schweriner Staatskanzlei kennen. Wir schreiben das Jahr 2014. Putin ist der Pate mancher Anbahnung, und selbstverständlich sind wir BRD-Nachzüglerinnen im Herzen Russinnen, zumindest im Zweifelsfall. Angeblich besuchen unsere Fachleute schon mal jemanden mit einer Glock oder Beretta im Anschlag. Gebildet nennt Jonnas ostwestfälischer Westmann Kasper von Rossbach seine Geliebte amante mare-Baltico-mafiosa. Wahr ist, die dörflichen Durchstechereien sind mafiös von jeher. Die Anschlussfähigkeit der ’Ndrangheta in dieser Gegend gibt Jonna kein Rätsel auf.

So geht es weiter

Kasper meldet sich per WhatsApp. Jonna bestätigt ihm den gestern Abend sehr locker verabredeten Termin eines gemeinsamen Vormittagsbadeausflugs. Der Flugkapitän im Ruhestand bekundet sein Entzücken mit einem halben Dutzend Emojis. Er predigt Regression im Alter als Self-care-Subversion. Jonna lässt ihn leerlaufen. Müde lächelnd ignoriert sie die Gaga-Fröhlichkeit eines raffinierten Knackers. Heimlich findet sie sich wieder einmal zu heikel. Sie verklagt sich selbst auf Herausgabe einer alten Unbefangenheit. Wo ist die Unbefangenheit geblieben?

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Kein Haus der Gemeinde Tillwitz steht dem Bodden näher als das Skipperhus. Sein Reetdach wacht über sieben Zimmer und einer Mansarde, die sich leicht in eine stadtfeine Wohnung verwandeln ließe.

Urbaner Schick mit unverstelltem Bodden-Blick

So könnte man das Penthouse annoncieren, aber nicht in Tillwitz. Bürgerinnen mit Schöner wohnen-Ideen entfalten sich in ihren eigenen Häusern oder pendeln bloß in die Weiler zwischen Baum und Borke; so sagen manche Spaßvögel zu dem Streifen zwischen offener See und Bodden.

Jonna war noch nie so eitel wie in diesem Kaugummi-Jetzt. Die Tage gleichen sich aufs Angenehmste. Doch hinter jedem Strauch lauern Hyänen der Vergänglichkeit. Jonna ist außerdem so rothaarig wie noch nie. Die Mähne trägt sie vorgeblich nachlässig hochgesteckt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigt. Sie bewegt sich mit der Gewissheit, wahrgenommen zu werden.

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Da läuft sie. Sie hat einen Mordsschritt. Ihre Clocks hallen. Weiße Schlaghosen sorgen für eine maritime Note. Jonna präsentiert sich in einem Wellenganglook mit der Ansage: Ich habe nichts nötig und möchte von niemandem aufgehalten werden.

Man kennt Jonna nur noch in Flattersachen, in Leinen und Wolle, mit signalroten Lippen und dezentem Rouge; so geht sie zum Metzger, so kompromisslos anti-vegan. Piet Lauritz, so eingesessen wie Jonna, doch zwanzig Jahre jünger, verehrt die anspruchsvolle Kundin so wie man es ihm beigebracht hat. Als allwissende Erzählerin könnte ich mehr verraten. Ich kenne Piets inneren Küstennebel, die ganze Unklarheit eines Erben mit zugestellten Spielräumen. Seine in Reih und Glied vollständig in ihren Vorgängerinnenrollen glänzenden Eltern und Großeltern gewähren Piet eine Totalansicht der eigenen Vergangenheit in naher Zukunft. In allen Ritzen kniesten die Hoffnungsreste der Ahnen. Natürlich ignoriert der amtierende Lauritz das deprimierende Programm.

Jonna nimmt ihre Prise Bewunderung mit aus der Metzgerei. Sie wechselt zum Grööngood-Xuan; der Gemüse vertickende Nachfahre eines jener Dschungelkrieger des Việt cộng, die auf den Pfaden der sozialistischen Bruderhilfe via Rostock und Kasernierung nach Tillwitz gelangten, zählt sich geschmeichelt zu den Handlangern der Ostsee-Mafia - den Panntjefiskes.

„Als die DDR Geschichte wurde, waren die Vietnamesen mit rund 60.000 Menschen die größte Gruppe von Ausländern im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat. Bereits Mitte der 1950er-Jahre nahm die DDR im Rahmen von Solidaritätsprogrammen Vietnamesen auf. Der Höhepunkt wurde allerdings erst mit den so genannten Vertragsarbeitern Ende der 1970er-Jahre erreicht.“ MDR Zeitreise