MenuMENU

zurück

2022-03-16 08:42:33, Jamal Tuschick

Seelenmarmelade

„Auf Goethe, den philosophischen Kleinbürger ... den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt ... und (ihre) Binsen... gebündelt hat.“ Thomas Bernhard

*

Ich sehe ihn noch, mit seinem faltigen Kindergesicht, sinnlos zufrieden, später, als es zu Ende ging, erstarrend zu der mürrischen Grimasse eines abgeschminkten Spaßmachers, ihn, meinen Großvater, sächsischer Arbeiter, gestorben 1946, fünfundsiebzig Jahre alt, ungeduldig, an den Folgen der Geduld.“ Heiner Müller

© Jamal Tuschick

Heimliche Hausmeister

Kurt beobachtet die Querflötistin. Seit Tagen nutzt sie das kleine Kolosseum im Glauburg Park als Bühne. Kurt hält sie für eine Japanerin. Er glaubt nicht, dass sie das Spielgeld nötig hat. Sie sieht nicht so aus, findet Kurt. In ihrer Rolle verschmilzt sie mit den Erscheinungen des täglichen Verlaufs.

Shape, Shine, Silhouette, Shadow, Spacing

Manche täuschen mit Wespenwarntrachtfarben eine Gefährlichkeit vor, die sie nicht haben. Andere erscheinen so vegetarisch wie Ringelblumen, sind aber Fleischfresser. Skyliner vergrößern ihre Silhouette, um besonders ungebremst und zwanglos zu wirken. In der Regel simulieren sie einen Kunstwahn. Die Täuschung erlaubt es ihnen, als Kulturschaffende durchzugehen und nachts in Kneipen zu versacken. Skyliner ist ein Wort aus Kurts verschwörungstheoretischen Grundstock. Skyliner müssen nicht tagein, tagaus im Schweiße ihres Bleichgesichts buckeln, so wie Kurt. Als geborener Tagelöhner und Handlanger erlebt er die Selbständigkeit in seinem Wurstwagen, einem aufgebockten Hänger aus Geros Fuhrpark, als Aufstieg in die Liga der Geschäftsführer im Nordend; mithin jener, die den Unterschied zwischen Brutto und Netto kennen sollten und ihren Rang mit kostspieligem Drogenkonsum untermauern.

Koksen nicht kleckern.

So weit wird Kurt nie kommen. Koks ist nicht sein Bier. Die Vorsicht rät ihm von jedem Exzess ab. Er geht unter der Hand durch als jemand, dem man Schlüssel anvertrauen kann. Zuverlässig, worttreu, ein guter Arbeiter. Das sagen die einen. Andere sagen das Gegenteil. Das ist in jedem Fall so. Einigkeit herrscht nie. Die üble Nachrede gehört zum guten Ton.

Woran erkennt man dann aber, wo einer steht im Gefüge des Viertels? Ob er taugt nach den Maßstäben der heimlichen Hausmeister und stillen Teilhaber. Fragen wir Karolin Freiburg. Im Nordend geboren vor siebenundvierzig Jahren als Tochter einer Studienrätin und eines Regierungsrats. Abgestiegen bis ganz nach unten zu den Mäusen im Keller, wo greinend vergreisende Babyboomer sich fragen, wie es so weit kommen konnte mit ihnen, da sie doch alle so furios gestartet sind. Im ersten Höllenkreis des Begreifens wehklagen vierzigjährige Küchenhelfer, die bis gestern beinah noch immatrikuliert waren. Böse Welt. Leute, die den Beinahs bestimmt nicht das Wasser reichen können, kommandieren sie herum und zahlen sie nach Gutdünken aus. Die Geschäftsführer behandeln jeden schlecht, dessen Schichtlohn von ihrer Laune abhängt. Ob sie so einem zehn, zwanzig, dreißig Euro mehr oder weniger in die Hand drücken, könnte ihnen egal sein. Aber das ist es nicht. Das unverdrossene Abstrafen der Nieten und Lappen zählt zu den Pflichten der Bestimmer. Das gehört zum Ritus. Kurts Stellung im Quartier beweist sich da, wo man es angebracht findet, ihn nicht übers Ohr zu hauen, sondern ihm seinen Teil auszuhändigen. Seinen Teil erhält grundsätzlich jeder, dem man zutraut, Mittel und Wege zu kennen, die eigenen Interessen zu wahren.

Der Mittel gibt es viele. Noch zu D-Markzeiten bekam Karolin einen deutlich höheren Stundenlohn als jeder Kollege, da sie sich in dem Kabinett, mit dem seit ewigen Zeiten offenstehenden, der Legende nach von Stammgästen aufgesprengten Tresor, so ausgiebig umzog, dass Otto Wundersamen Junior sich ausreichend als der Einäugige unter den Blinden gewürdigt fand. Obwohl alle mit den Verhältnissen Vertrauten die eher not- als machtgeilen Winkelzüge des verstockten Erben der Burggaststätte kannten, waren sich einige aus dem Mittelfeld nicht zu schade, Ottos Aufmerksamkeit in ihre Bahnen zu lenken. Otto besaß im Übermaß, was allgemein knapp war. Vor allem jedoch riegelten ihn keine ständischen Barrieren ab. Als Herr über tausend leckende Eimer und Eigentümer von verseuchtem Grund und Boden und jeder Menge schimmelnder Wände musste er ununterbrochen volkstümlich wirtschaften, Klempner, Fliesenleger und Elektriker begünstigen, und jederzeit mehr als einen Mann fürs Grobe in der Hinterhand behalten.

Hatte Karolin in den guten Jahren ihr Stück von Ottos Kuchen eingesackt, geschah es so selten nicht, dass sie im ursprünglichen Café läuft oder im Backstage oder in Masouds Trinkhalle einem Mann von Kurts Schlag den Vorzug vor einem Alleingang nach Hause gab. Gewissermaßen nur um seiner und ihrer selbst willen. Weil man sich gefiel und so wie zwei Grießklöße in einer Suppe schwamm.

Das ist lange her.