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2022-02-09 07:55:09, Jamal Tuschick

#Lob

Es geht um die Besprechung von Petra Grills Roman Ein Hauch von Amerika.

Reisacher, Ramona, @penguinrandomhouse, 8. Februar 2022 um 11:28

An: Jamal Tuschick

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Lieber Herr Tuschick,

vielen Dank für den Rezensionslink und die schöne ausführliche Besprechung!

Herzliche Grüße,

Ramona Reisacher

Hütte im Urwald

„Herrgott sind die Leute kleinbürgerlich. Wenn die Universität nicht wäre, würde ich besser tun, meine Hütte im Urwald aufzuschlagen.“ Ré Soupault 1951 über die Baseler Bürger:innen.

Jahrzehnte führt sie ein Leben zwischen Avantgarde und Jetset. Geschult am Funktionsschick des Bauhauses, schöpft sie Mode im Stil der Neuen Sachlichkeit, während sie im räumlichen und geistigen Zentrum des surrealistischen Klimax verschiedene Rollen spielt. Ré Soupault (1901 - 1996) zieht in der Grandiosität ihrer erweiterten Jugend epochale Gestalter:innen an. Der Zweite Weltkrieg reißt Ré Soupault von ihren Ankern. Bis weit in die 1950er Jahre hinein führt sie die Mansardenexistenz einer Entwurzelten, ohne ihren Mann, der erotisch außerhalb der Ehe Fuß fasst.

Zehn Jahre verbringt Ré Soupault in Basel als Versprengte; abgelöst von allen Vorkriegsselbstverständlichkeiten, dabei bodenpommerisch und unverzagt. Tatsächlich muss sie für sich selbst aufkommen. Geld verdient sie auch mit Geschichten für die Radiohörenden. Erst 1953 gelingt der Verarmten die Überwindung der Untermiete als Daseinsform.

Zusammengeschossene Katharsis

Karl Marx nannte sie die „schönste Revolution der Weltgeschichte“. Ré Soupault schildert den zweiundsiebzig Tage währenden Utopismus ebenso emphatisch. Sie titelt „Paris unter der Kommune 18. März - 28. Mai 1871. Nach zeitgenössischen Dokumenten dargestellt“.

Tenor des Radioriemens: „Trotz aller ihrer Fehler ist sie das grandioseste Beispiel der proletarischen Bewegung des 19. Jahrhunderts.“

Die Autorin schildert das kommunistische Experiment als „tödliche Bedrohung“ des ausbeutungsbasierten Kapitalismus. Nur mit einem gewaltigen Blutbad ließ sich das Schicksal „der alten Welt“ abwenden.

Ré Soupault, „Geistige Brücken. Essays“, herausgegeben von Manfred Metzner, Verlag Das Wunderhorn, 24,-

Man könnte von einer zusammengeschossenen Katharsis sprechen.

Verschleppte Ladungen

Isidore Ducasse (1846 – 1870), der sich als Comte de Lautréamont stilisierte und den Poète maudit als blutjunges Genie kultivierte, schuf unter den Vorzeichen der Pariser Kommune ein singuläres Werk. Es nahm nicht nur den Surrealismus vorweg, sondern kündigte auch das Grauen des Schwarzen Jahrhunderts an. Es funktionierte wie ein Katechismus für alle möglichen anarchischen Apotheosen. Wer in den letzten hundert Jahren literarisch schrecklich wild sein wollte, bezog sich auf den Comte, also auf einen abgebrochenen Studenten, der zunächst anonym und auf eigene Kosten publizierte.

„Im Herbst 1868 publizierte Ducasse anonym und auf eigene Kosten den ersten Gesang … bei Questroy et Cie.“ Wikipedia

Die Rezeption der Gesänge des Maldoror setzte mit gewaltiger Verspätung ein; hörte dann aber auch nicht mehr auf.

Die Editions- und Wirkungsgeschichte liefert eine Reihe von Beispielen für verschleppte Ladungen. 1869 taucht der Titel zwar in der Vorschau des Brüsselers Verlegers Albert Lacroix, nicht aber im Handel auf. Ducasse stirbt ein Jahr nach dem Nichterscheinen seines Debüts.

Das erzählt Ré Soupault in „Vorläufer der Moderne. Der Fall Lautréamont. Eine Revision“; gesendet im Hessischen Rundfunk am 24. 8. 1976.

Der belgische Buchhändler Jean-Baptiste Rozez erramscht1874 den Lacroix‘schen Lagerbestand. Er veröffentlicht die „Gesänge“ ohne jede Resonanz. 1885 fällt der Titel Max Waller, dem Herausgeber von La-Jeune-Belgique/La Jeune Belgique, in die Hände. Waller bewährt sich als Multiplikator. Die Präsentation eines Auszugs in seinem Periodikum stiftet eine feuilletonistische Prise von Léon Bloy:

„Eine der deutlichsten Manifestationen dieser bis zum Äußersten getriebenen Seelen ist das kürzlich nach Frankreich importierte Buch-Ungeheuer, das noch fast unbekannt ist, obwohl es in Belgien seit Jahren vorliegt, die Chants de Maldoror des Comte de Lautréamont. Ein Werk, das keine Parallele aufzuweisen hat.“

Flüssige Lava

„Was die Form des Werkes betrifft: es hat keine. Es ist flüssige Lava. Es ist wahnsinnig, finster und verzehrend. Aber nimmt diese unerhörte Blasphemie der Vorsehung nicht mit der unvergleichlichen Autorität der Prophezeiung den letzten und nahe bevorstehenden Schrei des menschlichen Gewissens vor seinem Schöpfer vorweg?“ Léon Bloy

Im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts bringt Léon Genonceaux die „Gesänge“ heraus. Dem Verlegerautor bewahrt das Internet kaum ein Andenken.

Ré Soupault referiert den Forschungsstand.

„Die Schriften über Lautréamont umfassten bis 1971 … etwa 600 Titel.“ Viele Autor:innen stellten sich die Frage, wie ‚automatisch‘ Ducasses Schreibweise gewesen sei. Stichwort Écriture automatique.

Ré Soupault erwähnt ihren Mann Philippe Soupault, „der 1917 als militärischer Rekonvaleszent in einer pittoresken Pariser Buchhandlung unter dem Einordnungsbegriff ‚Mathematik‘ die „Gesänge“ entdeckte.

„Das Werk wurde die große Entdeckung der Surrealisten.“

Eine kurze Ab- und Ausschweifung

Gesellschaftlich konnte Renault-Erbe Philippe Soupault sogar von Marcel Proust in Betracht gezogen werden. Die surrealistische Supernova hätte Soupault aus der Firmenportokasse finanzieren können. Er war zu vornehm für den Parvenü André Breton, der Soupault dämlich disste.

Proust bezog sein Bier aus dem Ritz. Seine Geräuschempfindlichkeit war sagenhaft. Er informierte sich auf seltsamen Wegen. Manchmal ließ er sich bei einer Spazierfahrt im Morgengrauen die Nacht berichten. Ihn interessierten die Farben der Federn an Damenhüten. Zu den Zuträger:innen zählte Soupault, wie Marcel Sohn eines bedeutenden Mediziners. Soupaults Bruder Robert, selbst Chirurg, widmete Marcels Bruder Robert eine Abhandlung. Die Kollegen begegneten sich zuerst in dem von Marcel Proust besungenen Kurtort Cabourg-Balbec (Quelle). Der Künstler als Knabe gibt in der Sommerfrische den abgebrühten Beobachter. Er bemerkt „unfreundliche“ Hügel am Strand von Balbec. Den Bahnhofsvorsteher verortet er „zwischen Tamarisken und Rosen“. Er lächelt auf den „künstlichen Marmor“ der Monumentaltreppe im Grandhotel seines Aufenthalts herab. Den Direktor, „ein Fettwanst im Smoking“, verdächtigt er „einer kosmopolitischen Kindheit“.

Aus der Ankündigung

Ré Soupault kehrte 1948 aus den USA nach Europa zurück und lebte bis 1958 in Basel. Dort begann sie neben ihrer Arbeit als Übersetzerin mit dem Schreiben von Radio-Essays … Sie beschäftigte sich mit historischen und aktuellen Themen: westliche und östliche Philosophien, die Emanzipation der Frau, Freiheitsideen, Portraits von Schriftstellern aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die Folgen des Ersten Weltkriegs. Ihre Essays zeichnen sich durch fundierte Recherchen, inhaltliche Klarheit, Esprit und einen Stil aus, der das Lesen auch heute noch – aufgrund der Auswahl ihrer Themen – kurzweilig und zu einem Leseerlebnis macht.

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Ré Soupault, geboren 1901 als Erna Niemeyer in Pommern, arbeitete bereits während ihres Studiums 1921-1925 am Bauhaus in Weimar. Über ihren Mann, dem Dadaisten und Filmkünstler Hans Richter lernte sie u.a. Man Ray und Sergeij Eisenstein kennen. 1931 gründete sie in Paris ihr erstes eigenes Modestudio »Ré Sport«. Im Kreis der Pariser künstlerischen Avantgarde traf sie ihren späteren Ehemann Phillipe Soupault. Mit ihm unternahm sie ab Mitte der dreißiger Jahre zahlreiche Reisen durch Europa und Amerika, wo sie seine Reportagen fotografisch begleitete. Seit 1948 wieder in Europa, arbeitete sie als Übersetzerin und Rundfunkautorin. Sie starb 1996 in Paris.

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Manfred Metzner lebt als Verleger und Rechtsanwalt in Heidelberg. Er ist Herausgeber der Philippe-Soupault-Werkausgabe und des Werks von Ré Soupault.