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2021-12-31 06:38:35, Jamal Tuschick

Inneres Elfengeschehen

Michel Serres sagt:

„Ekstase und Existenz haben die gleiche Wurzel.“

(„C.G. Jung begründete mit Jean Gebser die Vorstellung, dass die ersten Menschen in Ekstase badeten, und dass dieser transzendente Sinneszustand der wahre und natürliche sei.“ Roland Paulsen)

Das Religiöse komprimiert den animistischen Reflex. Es verdichtet das innere Elfengeschehen und schafft den größten Zusammenhang zwischen dem Kosmos und jener Welt in uns.

Das „Fast-Nichts“ der eigenen Existenz schließt sich mit dem Universum kurz.

Diese drei Kurzschlüsse – das Unermessliche im Punkt, das Sein im Nichts, Alles im Nichts – erzeugen einen Energiedruck von unendlicher Dichte, der mitunter über lange Zeiträume in einem Ausbruch von zerstörerischem Hass oder aber einer Liebe freigesetzt, die Zivilisationen schafft.“

Für Serres sind Mythen nicht bloß geronnene Erfahrungen*, sondern Informantinnen eines Vorwissens. Sie sind in dieser Deutung (der Menschheit) vorgesetzte Wahrheiten.

*„Mythen sind geronnene kollektive Erfahrungen“, sagt Heiner Müller. Er beruft sich auf Ovid, der in seinen „Metamorphosen“ die Weltentstehung nach antikem Verständnis beschreibt. In dieser Auffassung transformiert sich das Göttliche im Organischen. Gött:innen beseelen Pflanzen, ihr Atem verwandelt jeden Hain in einen Tempel.

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„Wer einst den Blitz zu zünden hat/ Muss lange Wolke sein.“ Friedrich Nietzsche

© Jamal Tuschick

Wackeldackel im Amöbenstadium des Opportunismus

Es gibt sogar reaktionäre Äpfel in der frühen Heinermüllerlyrik, alles wird gereimt und geschüttelt, mal nach Brecht und mal nach Bolle. Zehn kleine N... con variazioni plus Dialektik plus Backe, backe Kuchen. Da ist einer: der entschuldigt sich für seinen Schatten. Der applaudiert bei jeder Gelegenheit. Der wird zum Wackeldackel im Amöbenstadium des Opportunismus. Das ist nicht Müller. Aber Müller sieht ihn. Sieht den Ansturm des Lebens als eine Gleichgültigkeit gegen den Abgrund moralischer Inkontinenz. Dieses Versagen stiftet eine Sehnsucht nach dem Jüngsten Tag (auf kommunistisch).

„Müller hat auf den Kommunismus gewettet wie Pascal auf den lieben Gott“. Peter Hacks

Reaktionäre Äpfel

„Im Jahrhundert der Pest / Wohnte ein Mann in Bow, nördlich London / Bootsführer, mittellos, ohne Ansehen, aber / Treu den Seinen“, dichtet Heiner Müller in seiner Keimzeit. Er erwartet kein Erbarmen. Expect no mercy, sagt Shakespeare. Müller ist Django, „die Lügen der Dichter sind aufgebraucht / Vom Grauen des Jahrhunderts.“ Django Müller trommelt in der Nacht. Leichen pflastern seinen Weg. Frauen knüpfen Schlingen für ihre verworfenen Männer. Plötzlich sind die Männer Verbrecher. So endet der Faschismus als Staatsform. In den Köpfen ändert sich weniger.

Heiner Müller arbeitet sich ab am Alptraum der Geschichte, aus der keiner erwacht. History is a nightmare … Es gibt sogar reaktionäre Äpfel in der frühen Lyrik, alles wird gereimt und geschüttelt ...

Müller laboriert am Zustand einer alten Welt, die ihren Geist aufgegeben hat. Es ist Zeit für Neues.

Joint Attention - Eine Erinnerung an einen Abend mit Heiner Müller im Metzer Eck

Am Tresen erklingt die große Sprecharie des kleinen Mannes, dem im Schrebergarten seines Daseins ständig der Himmel auf den Kopf zu fallen droht.

Schön, wenn man mal nicht vor Begeisterung gähnen muss. Wie schön auch, Iris zu sehen. Joint Attention nennt der Fachmann die geballte Aufmerksamkeit. Ohne dieses evolutionäre Format einer menschlichen Fähigkeit gäbe es kein Theater. Bernd erinnert daran, er hängt an Iris. Mit einer Visage wie ein zertretenes Beet. Bernd sieht aus wie ein degenerierter Wikinger. Er ist furchtbar verliebt. Iris behält wenigstens formell ihre Skepsis. Jeder Nuance ihres Spiels gibt sie eine fatale Note.

Der Abend beginnt für uns im Metzer Eck, Bernd nimmt sich den Novomat vor. Am Tresen erklingt die große Sprecharie des kleinen Mannes, dem im Schrebergarten seines Daseins ständig der Himmel auf den Kopf zu fallen droht.

Die Küche empfiehlt Eisbein. Das Schnitzel unter dem Ei schmeckt förmlich nach der Begeisterung für einen Feierabend in schierer Pantoffelöffentlichkeit. Das Wetter wird besprochen, mit heidnischen Einflüsterungen. Es mussten die Winter ja stets überlebt werden, mit der Aussicht auf einen Frühling. Älteste Befürchtungen stecken in den Wetterberichten, die man sich so zukommen lässt, als hätte jeder sein eigenes Wetter. Ein Fuchs schnürt über die Metzer Straße, das ist keine Sensation, manchmal kehrt der Fuchs auch ein.

In den Straßennamen des Quartiers veröffentlicht sich der stark verblasste Triumph des Deutschen Reichs über Frankreich 1870-1871. Ich habe einen Rausch in Fliederfarben. In dieser Gegend lagern Leute Kohlen in ihren Wohnungen, Iris steigt auf die Dachböden privater Umstände und schreibt darüber wissenschaftliche Abhandlungen.

Vom Licht gestürmt der Ruß. In einer Vitrine verblasst Kuchen. Am Tresen arbeitet eine Wera Cholodnaja und weiß vermutlich gar nichts von ihrer Ähnlichkeit, die Heiner vor allen anderen auffällt.