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2018-10-23 13:02:29, Jamal Tuschick

Die Geschichte der Gastarbeit in Osthessen IV. Teil

Aktivträumer

In der Klingenbacher Aue

Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanilisi beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile. Seine Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die kulturellen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern (Hemşinli), die sich in den gleichen Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammen bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus der Provinz Düzce. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man sie als Türken wahr.

Die Geschichte der Gastarbeit muss noch geschrieben werden.

Eingebetteter Medieninhalt

1952 setzte der Aschaffenburger Fuhrunternehmer Anton Schlosser eine Halle auf eine Wiese neben Felder in der Umgebung von Finkenherd. In dem wie ein Aussiedlerhof freistehenden Behelfsbau produzierte Schlosser Holzabsätze. Er etablierte sich als Zulieferer der Pirmasenser Schuhfabrikanten, die er als Spediteur kennengelernt hatte. Schlosser beschäftigte Leute, die bis dahin in einem entlegenen Winkel der jungen Republik unbeschreiblich armselig existiert hatten. Sie kamen aus Familien, die Elend gewöhnt waren und ihren Tagelöhner- und Erntehelfer-Lebenszuschnitt schicksalhaft begriffen. Zu den angestammten Parias gesellten sich Entwurzelte aus verlorenen Ostgebieten und bildeten eine archaische Außenseitergesellschaft, vergleichbar mit Moonshiner Habitaten in den Appalachen. Sie brannten Schnaps und keltern Wein aus Äpfeln. Sie wilderten mit Fallen in dem wurzelechten Hochmoor der Klingenbacher Aue. Die Verluste des Moors sind Gewinne des Klingenbachs, der nach einer Verschwisterung mit der Schmalsau zur Fulda entwässert.

Kein Name, der nicht Geschichte transportiert. Klingenbach ist ein Landschaftsbegriff und der Name einer Burg. Ein ruiniertes Kolossal des 12. Jahrhunderts und ein Tal, das die Fulda in Schiefer schnitt, heißen so. Ich beobachte Uferschnepfen, Waldwasserläufer und Grauwürger auf einem Beet voll Sonnentau und Schwarzer Krähenbeere. Jahrhunderte bot sich die Gegend zu Sichtungen von Wildkatzen an. Im Mittelalter scheiterte der Versuch einer agrarischen Nutzung.

Die Aue gibt einer Sehnsucht das Recht und die Ruhe, die Welt so zu erfahren, als sei sie neu. Eine pietistische Täuferbewegung nahm von da ihren Weg nach Amerika. Diese Leute nannten sich Tunker, daraus wurde Dunker. Ihren religiösen Betrieb halten sie in Pennsylvanien aufrecht.

Ein Fadenmolch zeigt sich. Ich bemerke meinem Vertriebschef Morgan Freilich bei einer gymnastischen Andacht. Wir sind uns zum ersten Mal auf einer Multi-Level-Marketing-Gala begegnet. Morgan stellte sich als Spezialist für Telefonakquise und frisch gekündigter Marketingchef auf der Suche nach einer neuen Aufgabe vor. Er weiß, wie man die Verkäuferbinse Wir bieten keine Produkte, sondern Erlebnisse im konservativen Marktgeschehen der Sanitätshäuser und des orthopädischen Schuhhandels zum Klingen bringt. Seine Kompetenz kommt aus dem Lustzentrum.

Morgan ist ein obsessiver Verkäufer. Ich brauche Leute, die ihre Leidenschaften mit Schuhbodenteilen zusammenbringen können. Bodenständige Visionäre. Aktivträumer voller Gier und Ungeduld.

Um auf den alten Schlosser zurückzukommen. Seine Härte vertrug sich mit Empfindlichkeit. Er erlebte Momente der Verstörung im Kontakt mit giftigen Materialien, die nicht nur gedankenlos in Möbeln verarbeitet worden waren, sondern ihm in einem Gipfelsturm der Ignoranz auch noch als Sitzgelegenheiten angeboten wurden. Er setzte sich auf keinen Plastikstuhl. Jede stromführende Leitung musste sich einen Meter von seinem Kopf entfernt befinden. Nach dem zwölften Um- und Ausbau der Fabrik wohnte er schließlich herrschaftlich in einem Penthouse über der Produktionssphäre. Meine kindliche Weltauffassung gab den Räumen die Dimensionen von Hollywood.

Das Herrenzimmer, in dem ein Kamin bis heute nicht fertig gemauert ist, konnte stromfrei geschaltet werden. Ein rotes Licht zeigt das futuristisch an.

Nach Schlossers Tod zog mein Großvater als nachfolgender Patriarch in das Attikareich des Gründervaters. Er verdrängte die Witwe, die zu einem ihrer Söhne nach Würzburg floh und da bald auf einem Hundekackstreifen tödlich verunglückte.

Seit über dreißig Jahren wird die Wohnung als Lager genutzt. Staub begräbt den Schick einer anderen Zeit. Die Stromsperre funktioniert noch. Ich empfinde das Signal als Repräsentanz. Der Geist des alten Franken materialisiert sich im illuminierten Schalter. Er zeigt sich in meinen Robotern, die ich mit Erfindungen gepimpt habe. Ich halte neun Patente rund um die Produktion. Nachts blinkt, leuchtet und schilpt es auf der Fabrikationsebene wie in Blade Runner. Ich finde meine Bilder und Antworten im Popcorn Kino und in Hitparaden. Walt Disney und die Beatles - in meinen Träumen verbindet sich die Lyrik von Liedern mit meinem Leben.

Ich erinnere eine Kinderangst im menschenleeren Maschinenraum. Meine Kinder zeigten die gleiche Angst, solange sie klein waren. Zwei verweigerten sogar die Treppenhäuser in stillen Stunden.