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2020-06-18 05:56:06, Jamal Tuschick

Die große Sprecharie

Weiter im Text. Ich lese noch einmal den „Siegfried“

Nach einem Gang durch das Gebirge der Kindheit, einem Intermezzo im niedersächsischen Todenmann als „Zonenflüchtling“, einer Lehre zum Buchhändler in Düsseldorf und vielen Nächten in der Gesellschaft gefährdeter „Friseusen“, strandet Schröder in der Werbeabteilung von Kiepenheuer & Witsch. Dieter Wellershoff erfindet da gerade den Kölner Realismus rund um sich selbst. Neven DuMont, der seinen Stand mit der Heirat einer Witsch-Tochter jedenfalls nicht verschlechtert hat, versucht den begabten Habenichts zu überflügeln, indem er Schröders Ideen als seine eigenen ausgibt. Er wird den Verlag vor Ablauf des Jahrzehnts übernehmen.

Oft kommt Schröder direkt aus dem Puff zur Arbeit. Er trainiert sich Büroreflexe an, um nicht aus dem Rahmen zu kippen. Die Kolleg*innen durchschauen das Spiel, stehen selbst aber zu sehr unter Druck, um Vertrauen in ihre Intriganzkraft zu entwickeln. Joseph Casper Witsch gibt den Brüllaffen, der seine Leute zusammenscheißt. Ich lese nebenher „Die toxische Macht der Narzissten“ von Marie-France Hirigoyen.

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Die Autorin arbeitet sich an Trump ab, um zu zeigen wie pathologisch sein Verhalten ist. Unter den Gründervätern der Bundesrepublik grassierte der Typus. So sahen unsere Wirtschaftskapitäne aus. Witsch kam 1906 in Köln zur Welt. Er landete in kleinen Verhältnissen. Schon im Knirps steckte der Aufsteiger. Zunächst orientierte sich Witsch links, bevor er sich zu Nazikonditionen auf eine Reformation des Büchereiwesens warf. Er gründete und publizierte im Vernetzungsrausch mit der Tatkraft des Entfesselten. Nach dem Krieg holte Witsch die Titel verfemter Autoren aus Bibliothekskellern und stand gleich wieder als Held in der politischen Prärie. Gemeinsam mit Max Bense veröffentlichte er im Rudolfstädter Greifenverlag den „Almanach der Unvergessenen”. Im Stil einer Kalenderblattsammlung reanimierte die Sache ein Interesse an Luxemburg, Liebknecht, Kollwitz.

Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus, „Siegfried“, Schöffling & Co., 28,-

Publikationszusammenhänge, die ihren Ursprung in der Bündischen Jugend hatten, und nach der Gleichschaltung manchmal in jahrelangen Winterschlaf fielen, signalisierten ihre Wandervogelvergangenheit im Signet.

„Man könnte einen ganzen Zoo mit diesem heraldischen Geflügel füllen. All die Reiher, Schwäne, Adler”, schreibt Werner Helwig über einen klandestinen Seitenweg der deutschen Literaturgeschichte, Abteilung Innere Emigration.

Witsch kam in den Westen wie der Spion aus der Kälte und stellte sich nun an die Spitze des aus schwarzen Kassen nicht zuletzt finanzierten antikommunistischen Kulturkampfes. Das hielt ihn nicht davon ab, Bölls Verleger zu werden und so einen zukünftigen Weltmeister dem Portefeuille einzufächern.

Witsch publizierte Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder”; ein Buch, das Jahrzehnte im Gespräch blieb. Leonhard war der erste in der Wolle gefärbte Kader, der wortgewaltig von der Fahne ging und u.a. zur Entzauberung Stalins beitrug, als jener noch mit lyrischen Liebeserklärungen rechnen konnte.

Lassen Sie uns weiter über Schröder reden. Schröder wirft Böll einen zölibatär-katholischen Sozialismus inklusive eines faden Freiheitsversprechens vor. Er kündigt Witsch und heuert bei Josef Rieck in Aulendorf an. Die Geschichte vom Versandbuchprotestanten Rieck bildet das Kernstück der Schröder’sche Wander- und Lehrzeit. Rieck versandte im Dritten Reich verbotene Literatur. Er war ein Widerstandskämpfer in der Spielart des kreuzgenauen Schwaben. Sein Reichtum begründete das Vertrauen der Pietisten in eine prosaische Praxis. Rieck erschien der Kundschaft mustergültig mit seinen schnickschnackfreien Saugpost*-Informationsbriefen.

* Saugpost ist ein sehr voluminöses, saugfähiges Papier für das (früher verbreitete) Abzugsverfahren mit Schablonenvervielfältigern und Schablonendruckern.“

Der Clou war, die Saugpost sah nur so aus. Der Redlichkeitsapostel Rieck ließ zur Täuschung der Pastoren ein Papier mit Saugpostanmutungen herstellen.

Ich bleibe deshalb so lange dabei, weil später die Macher von Zweitausendeins https://de.wikipedia.org/wiki/Zweitausendeins das schwäbisch-konservative Fake-Konzept kopierten. Ich erinnere an die Heftchen, aus denen wir bestellten. Zum Beispiel kam so R. Crumbs „Yum Yum“ in unsere Haushalte. Man sollte nicht glauben, dass die Masche so unterschiedliche Zielgruppen perfekt traf. Ich schließe daraus, dass in den jugendlichen Freaks von 1970 die seelische Zeitlosigkeit der Evangelischen steckte.

Das muss man begreifen. Und darin war Schröder gut.

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