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2019-04-03 07:04:08, Jamal Tuschick

Der Regisseur Florian Borchmayer unterhielt sich in der Berliner Fahimi Bar mit der mexikanischen Schriftstellerin Fernanda Melchor. Er beschrieb Mexiko als „ein Land auf dem Weg zur Hölle“. Melchor schildere „das Inferno der spätkapitalistischen Gegenwart“ im Stil des jeden magischen Realismus allergisch verweigernden ...

Apokalyptischer Realismus

Mit enormer Verfügungsgewalt wechselt Florian Borchmayer zwischen Spanisch, Englisch und Deutsch. Er jongliert mit großen Brocken.

„Wir leben in einer brutalen Klassengesellschaft.“

Die wird von Melchor beschrieben in ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Roman.

Fernanda Melchor, „Saison der Wirbelstürme“, aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar, Wagenbach, Quartbuch, 240 Seiten, 22,-

„Hart und kompromisslos realistisch, ohne Floskeln und Narco-Kitsch zeichnet Fernanda Melchor ein dichtes Bild der mexikanischen Gesellschaft“ sagt der Veranstaltungsankündigungstext. Melchors Heldin ist eine kaum übermenschlich vor den Reduktionen des Alters gefeite Hexe, insofern La Bruja mit vierzig so aussieht als sei sie längst sechzig, und ihr Gedächtnis sie ordinär im Stich lässt. Sie könnte arm sein in ihrem Hexenhaus, das mal ein Schweinestall war, da aber auch Gold horten. Jedenfalls ist sie Mutter einer für das Metier der Zauberei hochbegabten Tochter.

Doch wer ist der Vater?

Hat vielleicht ein Mann aus dem Dorf der Hexe beigewohnt?

Die Tochter sieht ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich.

Kinder stoßen schließlich auf die Leiche der Alten im Schilf.

Borchmayer beschreibt Mexiko als „ein Land auf dem Weg zur Hölle“. Melchor schildere „das Inferno der spätkapitalistischen Gegenwart“ im Stil des jeden magischen Realismus allergisch verweigernden apokalyptischen Realismus. Seit der Kampf gegen das Organisierte Verbrechen kriegsförmig geführt wird, kamen mehr als vierzigtausend Menschen ums Leben. Die Eskalation koinzidiert mit vielen Morden an Frauen, die zum Großteil nicht aufgeklärt werden.

Borchmayer spricht von „Listen geschlachteter Frauen“. Nach Angaben des Instituto Nacional de Estádistica y Geografía (INEGI) wurden zwischen 2000 und 2009 12.636 Frauen umgebracht. In Ciudad Juárez wird alle zwanzig Stunden eine Frau ermordet. Melchor erklärt, sie habe für diese Entrechtung einen narrativen Rahmen geschaffen. Sie wollte Verhältnisse beschreiben, in denen man eine Frau töten kann, ohne rechtliche Folgen fürchten zu müssen.

Nichts sei naheliegender als Konzentration auf Gewalt … in einer von Zuckerrohrfeldern geprägten Landschaft.

Ich dichte kurz mit.

Hinter jeder Geschichte und den Versen vieler Lieder, denkt an The Little Red Rooster, steckt eine Geschichte, die schmutziger und zugleich sagenhafter ist als die populärste Version. So beginnt die Moritat von der in La Matosa Fluch und Segen spendenden Hochlandhexe La Bruja im 16. Jahrhundert als ein von Guinea nach Mexiko verschleppter Königssohn seine Fesseln sprengte und eine Cimarrón (Maroon) Kolonie in den Bergen von Veracruz ausrief. Gaspar Yanga besaß Courage und Geschick. Jahrzehnte hielt er die Stellung. Der Ort existiert noch: San Lorenzo de Cerralvo in der Yanga Municipality. Hochbetagt delegierte Yanga militärische Aufgaben an Francisco de la Matosa, einem Angolaner, der hundert Musketiere und vierhundert Steinschleuderer und Bogenschützen befehligte. Auf den Schauplätzen Schwarzer Siege geht La Bruja magischen Geschäften nach, bis zu ihrer Ermordung.

Borchmayer hält mit einer marxistischen Analyse dagegen. Er klassifiziert die Frauen von La Matosa als Lumpenproletarierinnen. Sie absolvieren Doppelschichten in zwei Fabriken – in einem Fabrikarbeit-Prostitutions-Kontinuum. Ihr Selbstverständnis streift höchstens die Bedingungen der Selbsterhaltung. Sie begreifen sich als Kleinunternehmerinnen. Ihre spirituelle Beschichtung amalgamiert Katholizismus, indigene und afrikanische Religionen.

Der Staat ist abwesend.

Es gibt viel Sex, aber keine Liebe in Weilern, die alle Tombstone heißen könnten.