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2019-02-10 05:34:10, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

Seelisch obdachlos

Ich kam vorbei am Backhaus, das nicht mehr genutzt wurde, und am Milchhäuschen, wo wenige Jahre zuvor noch ein Bauer im Morgengrauen große Kannen befüllt hatte. Auf einem Schleichweg zwischen Häusern stahl ich mich wieder zum Michelbach und auf den (vom Dorf aus) ersten Brombeerkamm.

Eingebetteter Medieninhalt

Nach der Scheidung von Onkel Klaus nahm Tante Almut ihren Mädchennamen wieder an. Sie nannte ihre Befreiung eine Niederlage, um bei der Verwandtschaft und im Bekanntenkreis nicht zu unabhängig rüberzukommen. Dann tat sie auch noch, als sei sie in der Niederlage bis zur Verblödung verjüngt worden. Almut gefiel sich in einem Zustand fiktiver Unreife.

Almut verkaufte weiter immer lustig Käse- und Speckkuchen im Korridor vor der Backstube Schlipp. Ich zählte seit meinem dritten Lebensjahr zur Kundschaft. Zum Bäcker gehen, war eine Leidenschaft. Mir gefiel die Strecke, sie war mit dem schönsten Umweg meiner Kindheit verbunden. Ich bummelte und trödelte und träumte mit offenen Augen. Außerdem war ich ein passionierter Gleisbettgänger, mit einem früh entwickelten Sinn für die Schönheit stillliegender und schwach frequentierter Schienenstränge. Einst hatte das Dorf einen Bahnhof gehabt. Davon übriggeblieben war ein überwucherter Steig über Schienen. Sie führten schnurrgerade sonst wohin. In weichen Kurven bogen von der Hauptstrecke Gütertransportwege ab. Sie dienten nur noch selten genutzten Verbindungen zwischen unseren Großbetrieben im Industriegebiet und dem Hauptbahnhof. Eine Strecke hatte ihr eigenes Tal. Die Wände eines künstlichen Canyons engten das Tal ein. Auf den Kämmen wuchsen Brombeersträucher von der Bevölkerung weitgehend unbeachtet in dornigen Verschlingungen grimmig zusammen. Nie sah ich da jemanden das Fest einer Beerenlese begehen. Die Fronten des Reiterhofs, meines Kindergartens und eines bäurischen Anwesens begrenzten die innerdörfliche Perspektive. Entlang der Rückseiten floss der Michelbach. Ab und zu patrouillierte der alte Schreiber mit seinem Schäferhund auf dem Pfad zwischen Bach und Feldern. Schreiber sah aus wie Wolfgang Thierse. Er war bei der Stadt im öffentlichen Dienst kein kleines Licht. Er wohnte mit seiner Frau und einem Sohn im Elternhaus. Erfüllt von einem nachstellenden Misstrauen, war Schreiber die Unfreundlichkeit in Person. Sozialdemokrat war er vielleicht nur wegen des richtigen Parteibuchs. Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls habe ich ihn nie etwas Sozialdemokratisches sagen hören, so wenig wie andere regelmäßige Teilnehmer an den Ortsvereinssitzungen. Wir müssen darüber noch mal reden.

Schreiber war ein Freund von Onkel Klaus. Die beiden bauten viel im/am Haus, mal in/an dem einen, mal in/an dem anderen. Selbst die Zwinger auf ihren Grundstücken waren Kleinode mit Schmiedekitsch und Drechselwerk.

Ich weiß nicht, warum Schreiber in meiner Erinnerung nicht erloschen ist. Er war nicht wichtig in meinem Leben. Ich bewahre der Widersprüchlichkeit seiner Persönlichkeit kein besonderes Andenken; ich erlebte extreme Typen; die Provinz ist ein Eldorado des Eigensinns. Seelisch Obdachlose vor Fernsehern in großen Häusern … der Vater eines Freundes war im Polizeidienst angeschossen worden und wartete im Rollstuhl die Jahre ab, die der Täter anders absitzen musste. Als der Schütze wieder freikam, erschoss der Vater erst ihn, bevor er sich selbst erschoss. Beides mit Ansage. Jahrelang täglich.

„Ich warte nur noch, bis das Schwein wieder draußen ist.“

In der Zwischenzeit hatte ihn die Mutter meines Freundes verlassen und einen Kollegen ihres Ex-Mannes geheiratet.

Der Irrsinn grassierte. Wahnsinn muss man sich leisten können. Die meisten Leute im Dorf waren nicht bloß mit dem Überleben beschäftigt. Sie hatten Spielräume, die sie monoman mit aberwitzigen Haustieren, Versandhausreizwäsche und den Konsultationen von Wahrsagern ausfüllten.

Zum Beispiel Klaus. Er verachtete Buchwissen. Wohl wissend, dass ich von den Büchern überhaupt nicht wegzukriegen war, predigte er meinen tauben Ohren die Freuden des tätigen Lebens. Er war so strunz stolz auf seine Heimwerkerleistungen. Er liebte es, überlange Kabel hinter sich herziehend, mit einer Schlagbohrmaschine auf seinem Grundstück spazieren zu gehen. Er wallfahrte und lustwandelte im Eigentum.

Wir, das heißt meine Familie, waren arme Schlucker. Mein Vater hielt sich mit etwas so Sinnlosem wie der Parteiarbeit auf. Das war Zeitverschwendung. In der Zeit konnte man einen Zaun geradeziehen, oder was für die Frau bauen, solange man sie noch hatte.

Die Frau konnte einem eh leichter zu viel werden als das Haus und noch eine Garage, die zunächst nur als Stauraum und für eine günstig erstandene Tiefkühltruhe neben die natürlich zum Haus gehörende Doppelgarage demnächst gebaut werden wollte.

Wir hatten keine Garage. Noch lebten wir in der Siedlung. Mein Vater hatte viel zu lange zum Stamm der Fahrradfahrer und Busnutzer gehört. Ein Befremden nahm den vertrauten Anblick von Vätern an Haltestellen oder auf Fahrrädern aus der Selbstverständlichkeit. Mit solchen Vätern war nicht alles in Ordnung.

Es gab keinen „normalen“ Mann im richtigen Alter, der nicht Vater gewesen wäre. Kinder gehörten dazu. Man war nicht komplett ohne Familie. Die Anstrengung, als Kinderloser Achtung zu ernten, hätte jeden fertiggemacht.

Das machte es allen leicht. Auch Almut und Klaus waren normal mit ihren zwei Plagen, die, und genau da trennte sich die Spreu von Weizen, beim Vater geblieben waren. Almut wohnte jetzt bei ihrem Bekannten in Bergshausen und pendelte ins Dorf. Sie nahm den Bus, sie zahlte den Preis. Sie blieb sich treu und verkaufte so sonnig wie eh und je Plundergebäck und Bienenstich. Den Speckkuchen gab es nur mittwochs.

Ich vergaß mich in den Backstubengerüchen. Die Mischung aus Pflaumenmus und Nougat schmeckte meiner Nase am besten.

Ich trug das Brot davon und nagte am Knust, so dass es hoffentlich nicht auffiel. Frisches Brot war für mich eine Delikatesse. Nur war frisches Brot nach einem verbreiteten Aberglauben ungesund. Deshalb gab es kein frisches Brot.

Ich kam vorbei am Backhaus, das nicht mehr genutzt wurde, und am Milchhäuschen, wo wenige Jahre zuvor noch ein Bauer im Morgengrauen große Kannen befüllt hatte. Auf einem Schleichweg zwischen Häusern stahl ich mich wieder zum Michelbach und auf den (vom Dorf aus) ersten Brombeerkamm.