Erosion als eine Form der Wahrheit
Schließlich landeten wir in Guanajuato. Auch hier gab es Co-Working-Spaces in einer malerisch-verwinkelten Altstadt. Guanajuato war ein Freelancer-Geheimtipp. Influencer schwärmten von authentischem Kolonialambiente und verlässlichem Internet.
Das „Mesón del Sol“ war überfüllt. Wir saßen an einem Tisch auf dem Trottoir vor der Tür in der Morgensonne. Du bestelltest für uns Café de Olla. Ich beobachtete, wie du die mesera mit deinem Charme zum Lächeln brachtest. Nach einem der Umgebung gewidmeten Moment legtest du das Mobile verkehrtherum auf den Tisch, ein Zeichen, dass du reden wolltest.
„Wir müssen bald wieder was anschieben“, sagtest du. „Drei Wochen die Seele baumeln lassen, ist fein. Aber jetzt brauchen wir einen Plan, der uns wieder eincheckt.“
Ich war in meinem Element.
„Was hältst du von Interviews mit Naturschutzpark-Rangerinnen überall auf der Welt?“
„Das ist es.“
Ich liebte es. Du warst auch mein Lektor und mein Executive Producer. Und ich war deine erste Leserin, deine Komplizin, 24/7 startklar und einsatzbereit. Wir waren nicht nur ein Paar, wir waren ein System. Und dieses System war durchlässig für Lust, Ordnung, Intellekt, Ökonomie.
Du kanntest meine Träume, als hättest du sie selbst geträumt. Oh, du mein Magier, manchmal musste ich an mich halten, um die Kirche meiner Liebe im Dorf zu lassen. Einen als Wanderweg ausgeschilderten Abschnitt des Camino Real de Tierra Adentro in den Hügeln der Sierra de Santa Rosa beschritten wir zünftig in Wandershorts, fast im Partnerlook. Wir passierten eine Abbruchkante, auf einem schmalen, perfekt ausgeschilderten Band zwischen Himmel und Abgrund. Der Fels unter unseren Füßen, permischer Kalkstein, war 270 Millionen Jahre alt. Der Camino Real (ein Paradebeispiel für koloniale Infrastruktur) folgte einem antiken Botenläuferpfad der Azteken und Purépecha. Die Porteadores transportierten Nachrichten und Waren barfuß über unfassbar weite Strecken. Vielleicht trugen zu ihrer Kondition auch psychoaktive Pilze (Teonanácatl) bei.
Der El Camino Real de Tierra Adentro entstand nach der Eroberung des Aztekenreichs, um den Silbertransport aus den Provinzen in die Hauptstadt zu beschleunigen. Unter Philipp II. (1556 - 1598) wurde das System perfektioniert: Ausbeutung, Logistik und staatliche Kontrolle griffen ineinander. Das 1535 gegründete Vizekönigreich Neuspanien lieferte dem iberischen Imperium seinen kostbarsten Rohstoff - Silber. Die Juan de Oñate-Expedition, die im letzten Jahr der Herrschaft Philipp II., 1598, von Zacatecas nach Norden in das heutige New Mexico vorstieß, verwandelte die Route endgültig in ein koloniales Rückgrat.
Ich hatte genug gesehen in den Museen und auf den Schautafeln. Wie Konquistadoren das Land ‚entdeckt‘, wie sie es benannt, vermessen und aufgeteilt hatten. Ein Falke zog über uns Kreise. Am Corneta del Cielo unterbrachen wir unsere Wallfahrt. Seinen Namen verdankt der Aussichtspunkt der Felssilhouette, die wie ein erhabenes Signalhorn in den Himmel ragt. Wir erreichten den Mirador del Asombro, so benannt nach all den Oohs & Aahs, die er dem Publikum entlockt. Ich sah versteinerte Dünen, ursprüngliche Flusslandschaften, vorzeitliche Küstenlinien und Flusstäler. Erosion hatte ein Superpanorama erschaffen - Steilwände, schräge Flanken, auskragende Felsnasen. Die Grandiosität von mineralisiertem Strömungsrelief und Jahrmillionen alter Schrägschichtung. Das Spiel von Wind und Zeit. Am Mirador del Asombro öffnet sich ein Canyon nicht nur dem Blick, sondern auch dem Bewusstsein. Die Landschaft flüstert in Abstufungen von Rot, Ocker und Gold: Ich bin so alt wie nichts, was du je gesehen hast und doch steckt in mir mehr Leben als in deiner kurzen Weltreise. Wanderer berichteten im Internet von Momenten tiefer Rührung in der plötzlichen Konfrontation mit Weite und Tiefe, sowohl in geologischer als auch in emotionaler Hinsicht. Jede Bewegung entsprach einer Linie in einem unfassbar detaillierten Netz. Unsere Körper und unsere Stimmen verlängerten diese Linien, bestätigten und veränderten Richtungen.
Bei alldem Überschwang warst du stets auf der Hut. Behutsam ginge auch. Deine Minne blieb taktvoll. Ich ahnte trotzdem, in welche Gegenden du mit anderen Frauen abgebogen warst. Wir sahen auf eine Wand, die zweihundert Meter senkrecht abfiel. Unter einem Himmel in den Farben von oxidiertem Kupfer vollzog sich ein uraltes Ritual unter den Vorzeichen der Jetztzeit. Ausgeführt von Jugendlichen in zusammengewürfelten Zeremonie-Kostümen. Mokassins und Jeans, Federschmuck und Sneakers. Selten hatte ich etwas so Archaisches gesehen wie diesen Stampftanz. Jeder Schritt zitierte die Ahnen, jede Geste entsprach einer Silbe in Varietäten, die älter waren als die älteste Landkarte dieser Gegend. Sie tanzten, um sich an Dinge zu erinnern, die einen Anfang begründeten. Es war für sie selbstverständlich, sich in einer Ahnenkette zu begreifen. Unser Individualismus musste ihnen wie eine Krankheit erscheinen.
Mir wurde schwindlig, wenn ich an deine Bedeutung in meinem Leben dachte. Später lag ich auf einem Stein, der wie ein atmender Leib auf die Hitze reagierte.
„Dieser Stein war einst Sand auf dem Grund eines flachen, warmen Meeres.“
Deine Stimme machte, dass ich glaubte, bis ins Devon schauen zu können. Ich kriegte Gänsehaut. Es war nicht nur Erregung. Es war ein Empfindungscocktail. Dazu gehörte der Rausch einer mir neuen Durchlässigkeit. Mich leitete das Wissen, dass der Körper eine Membran und kein Gefäß ist. Mein Atem war kosmischer Ursprung.
Wir übernachtete in La Estancia del Plata, einer mondänen Albergue im historisierenden Hacienda-Stil. Ein Aufmarsch des Musealen. Replikationen von rustikalem Kolonialdekor. Tonziegel, Naturstein, Fachwerk, Otomí- und Purépecha-Decken, kupfernes Schmiedewerk à la Sonora und Tierpräparate - darunter ein geschmeidig gestreckter Jaguar, der mir gerade deutlich vor Augen steht. Ein Gewitter zog über das Plateau. Die Luft war voller Wacholderaromen. Zwischen Agaven und Kakteen glühten violette Jacaranda-Blüten. Der Boden war aufgefaltet wie von einer erdgeschichtlichen Erregung - einem Ereignis in den Dimensionen der geologischen Zeit. Die Urzeitillusion verschleierte den Blick auf eine kolossale Exploitation von Menschen und Natur. All das Aufgerissene hatte seinen Ursprung im Bergbau.
Die Herberge lag zweitausend Meter über dem Meeresspiegel und bot dramatische Ansichten und Ausblicke. Sie hatte einen Salon mit gediegen gemauertem Kamin. Das war keine Attrappe und trotzdem nicht mehr als eine Behaglichkeitsschimäre. Tadellos gekleidete Ehepaare erfüllten sich in diesem Raum einen Lebenstraum. Ein Grandseigneur blätterte zerstreut in einer Ausgabe von Artes de México. Zweifellos beschäftigte ihn das jüngste Paar vor Ort. Er verschattete sein Interesse. Ich prüfte die zusätzliche Aufmerksamkeit. Sie bot einen Nebenreiz, auf den ich leicht verzichten konnte.