Guanajuato
Schließlich landeten wir in Guanajuato. Auch hier gab es Co-Working-Spaces in einer malerisch-verwinkelten Altstadt. Guanajuato war ein Freelancer-Geheimtipp. Influencer schwärmten von authentischem Kolonialambiente und verlässlichem Internet.
Das „Mesón del Sol“ war überfüllt. Wir saßen an einem Tisch auf dem Trottoir vor der Tür in der Morgensonne. Du bestelltest für uns Café de Olla. Ich beobachtete, wie du die mesera mit deinem Charme zum Lächeln brachtest. Nach einem der Umgebung gewidmeten Moment legtest du das Mobile verkehrtherum auf den Tisch, ein Zeichen, dass du nun reden wolltest.
„Wir müssen bald wieder was anschieben“, sagtest du. „Drei Wochen die Seele baumeln lassen, ist fein. Aber jetzt brauchen wir einen Plan, der uns wieder eincheckt.“
Ich nickte. Ich war in meinem Element.
„Was hältst du von narrativen Interviews mit schwedischen Rangerinnen?“
Du:
„Das ist es.“
Ich liebte es. Du warst auch mein Lektor und Executive Producer. Und ich war deine erste Leserin, deine Komplizin und, wenn es darauf ankam, 24/7 einsatzbereit. Wir waren nicht nur ein Paar, wir waren ein System. Und dieses System war durchlässig für Lust, Ordnung, Intellekt, Ökonomie.
Zwei Wochen später schlugen wir in Kiruna auf. Guanajuato liegt in der Sierra Madre, Kiruna fast am Polarkreis im arktischen Dauersonnenschein. Wir holten den Mietwagen - einen Land Rover Discovery Sport - ab. Im nächsten Sportgeschäft staffierten wir uns aus - Thermolayer, Fleece, Hardshell. Im Terrain Response-Modus fuhren wir zu dem Ferienhaus (mit einem in der angenehm weitläufigen Nachbarschaft zuverlässig deponierten Schlüssel) einer deiner ewig unsichtbaren Freunde in der Gegend von Abisko. Du hattest so viele überaus generöse Freunde und Bekannte, ohne dass ich je auch nur einen zu Gesicht bekommen hätte.
Du warst ein Meister reibungsloser Abläufe.
Du lebtest in zwei Geschwindigkeiten. Wir bewegten uns oft in steinzeitlichem Tempo. Wir liebten Wüsten, Wälder, Berge. Gemeinsam spürten wir den Herzschlag der Erde und den Atem des Windes. Gleichzeitig beschleunigte dich ein mysteriöses Netzwerk. Ein E-Mail hier, ein kurzer Anruf da. Nie musstest du jemanden drängen, erinnern, kontrollieren. Der Geldfluss versiegte nicht. Die Welt reagierte auf dich wie ein Pferd auf Schenkeldruck.
Wir akklimatisierten uns in einer von Fjälltäler und Moorseen modulierten Landschaft. Zwei Tage nach unserer Ankunft trafen wir vormittags um zehn Annika Mossberg. Sie war Anfang vierzig, aufgewachsen in einer Siedlung am Rande des Abisko-Nationalparks, Tochter eines Rangers. In den Streifgebieten halbwilder Rentierherden heißen die Wildhüter „Parkförvaltare“ und „Naturvårdare“. Annika arbeitete in einer pädagogischen Einheit als Spezialistin für geologische Bildungsformate, mit Fokus auf Plateau-Stabilität und periglaziale Formationen.
„Diese Gegend war einst von Gletschern überformt. Dann entstanden Moore und Feuchtgebiete. Heute beobachten wir ein Übergangsbiotop. Im Frühjahr ziehen Elche durch die Täler. Der Boden verändert sich ständig in Frost-Tau-Zyklen. Wir leben auf beweglichem Land.“
„Was bedeutet das für Sie?“
Annika betrachtete mich prüfend.
„Dass ich mir nichts auf meine Stabilität einbilde.“
Später sagte sie:
„Ich glaube nicht, dass der Park mich braucht. Aber ich brauche ihn. Um mich zu verorten. Ich bin keine Erzählerin. Ich bin ein Geländepunkt.“
Ich hätte sie umarmen können.