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2025-07-27 11:57:58, Jamal

Empfindsame Schärfe

Die Geschichte spielt in der fiktiven nordhessischen Universitäts- und ehemaligen Residenzstadt Ederthal. Die Hochschule wurde im Mittelalter unter protestantischen Vorzeichen gegründet. Sie ging aus einem Ritterkolleg hervor und heißt nach ihrem Gründer Landgraf Philipp Universität. Ihrer ersten Gestalt nach war sie eine Burg. Heute (in den 2020er Jahren) entspricht der Campus einem Epochenmix. Einzelne Gebäude sind eingerüstet. Einige sind wegen Baufälligkeit vom Publikumsverkehr ausgeschlossen. Es gibt einen toten Trakt, in dem auch schon erotische Scharaden aufgeführt wurden. Zu den klandestinen Bezirken innerhalb dieses Kremls der Gelehrsamkeit zählt die seit bald zweihundert Jahren nicht mehr genutzte Fürstenwohnung. Nach dem Ende der Ederthaler Residenzherrlichkeit diente sie hessischen Landgrafen und Kurfürsten als Unterkunft bei Stippvisiten. Sie hat einen weitgehend unzugänglichen, geradezu verwunschenen Garten. Nana von Eisenreich liebt den Blick auf das mit seltenen Gewächsen besonders gehaltene Kleinod. Der Garten zählt nach ihren Begriffen zu den Privilegien, die sich mit der fast schon intimen Nähe zum Dekan des Germanistischen Seminars verbinden. Professor Cole Coogan bekleidet sein hohes Amt in dem beinah noch jugendlichen Alter von zweiunddreißig Jahren. Er kommt also problemlos für alles in Frage, was zur Lebensplanung einer fünfundzwanzigjährigen Post-Doc-Stipendiatin gehört.

Cole ist der Sprachmeister. Das ist ein historischer Titel.

Luftlinienästhetik

Zentral in Jürgen Ploogs Werk ist eine Ästhetik der Mobilität. Nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sprachlich und medial ist sein Schreiben durchlässig. Ploog interessiert sich für das Fragmentarische – für das Unabgeschlossene, für Texte, die mehr senden als erzählen. Das zeigt sich besonders deutlich in seiner Faszination für die Kommunikation im Flugraum. Der Autor selbst sagt:

„Ich fliege nicht, um zu fliegen - ich fliege, um zu schreiben."

Diese Haltung prägt seine literarische Praxis: Das Cockpit wird zum Schreibraum, der Funkverkehr zur Textstruktur, der Pilot zum Grenzgänger zwischen Realität und Imagination.

Luftlinienästhetik vor - leicht, flüchtig, rhythmisch. Seine Texte vernetzen sich intertextuell mit anderen literarischen Stimmen, etwa mit Paul Bowles oder William S. Burroughs, ohne sich dabei je festzulegen. Das Schreiben bleibt ein poetisches Navigieren durch kulturelle Räume, mediale Codes und sprachliche Schichtungen. Die Realität, so schreibt Ploog in Neon Gray, „ist nicht mehr lokal, sie ist im Äther."

Nana schreibt:

Die aktuelle Rezeption zeigt Ploog nicht nur als stilistischen Einzelgänger, sondern als figurativen Knotenpunkt eines literarischen Unterstroms, der sich lange unterhalb der Kanonschwelle bewegte - und heute eine neue Bewertung mit Renaissancecharakter erfährt.

Was Ploog besonders auszeichnet, ist seine visionäre Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz und neuronalen Netzwerke. Bereits 1988 reflektiert er über intelligente Computer, die Aufgaben wie „die Unterscheidung feindlicher von eigenen Waffensystemen, Handschrifterkennung, Qualitätskontrollen und autonomes Autofahren“ übernehmen können. Er unterscheidet dabei die neurale Seite des Gehirns von der psychologischen und stellt die Frage nach der Grenze zwischen diesen Bereichen - eine Debatte, die heute im Kontext transhumaner Prozesse und neuronaler Epigenetik besonders relevant ist. Seine literarischen Entwürfe einer „sprachlosen Sprache“ - basierend auf Sensoren, die Gehirnströme in Wörter übersetzen - lassen Ploog als einen Vordenker erscheinen, der KI nicht nur als Technik, sondern als poetisches und philosophisches Vehikel einschätzt. Die Verbindung von innerer und äußerer Astronautik wird so zum Symbol für eine Zukunft, in der Mensch und Maschine verschmelzen. Zusammenfassend ist Ploogs Werk eine faszinierende Synthese aus Avantgarde-Literatur, philosophischer Reflexion und futuristischer Technologievision. Seine Texte fordern das Lesen als Erlebnis heraus, das mit sprachlichen Pirouetten und Hebefiguren spielt, um neue Denk- und Fühlräume zu eröffnen.

Nana im Selbstgespräch

Gestern brachtest du das Ederthaler Reglement und ein verbotenes Verlangen ins Spiel. Ich blieb meiner Ratlosigkeit überlassen. War es ein Rätsel? Eine kryptische Ansage.

Das Ederthaler Reglement und verbotenes Verlangen - ein Satz wie eine Erinnerung an ein anderes Jahrhundert. Cole, nicht immer sehe ich dich im Glanz deiner Sprachmeisterschaft. Manchmal erscheinst du mir in deiner Steuerungskabine als fluguntüchtiger Epigone des Cockpitpiraten Ploog. Gerade stehe ich in deinem Büro, im Scheinwerferlicht deines Interesses, um es vorsichtig zu formulieren. Meine Sprache nährt sich von meinem Körper, meiner Fruchtbarkeit, meiner Verletzlichkeit. Ich schreibe mit dem Puls meiner inneren Landschaft. Und wenn dich dieser Anblick fasziniert, dann gewiss nicht aus flüchtiger Begierde, sondern weil du spürst, dass da die Worte geboren werden, die dich erreichen. Mein Sprachkörper steht neben deinem. Meine Stimme will sich mit deiner vermählen. Als deine Komplizin will ich mit dir kollaborieren.

Nicht Kollision, nicht Kolonisierung, sondern Kollaboration. Cole, ich bin hier.

„Das Ederthaler Reglement und verbotenes Verlangen" - ein Satz wie aus der Korrespondenzfeder von Madame de Staël - geschmiedet von einem scharfen Geist, der Gefühl und Intellekt in eine vibrierende Allianz bringt. Ich schmecke deine Worte auf der Zunge. (Mir schmecken deine Worte buchstäblich, verehrter Sprachmeister.) Wenn es darum geht, der Sprache Leben einzuhauchen, verdienst du dir deinen Namen.

Stets fallen Antworten so aus wie die Epoche ist. Ein gefühlter Gedanke, ein Gefühl in Schriftform ... ich sehe dich mit dem Füllfederhalter deiner Innerlichkeit. Du bist bestrebt, deinem Begehren Herr zu werden; ihm eine Gestalt zu geben, die dich in meinen Augen adelt. Und wenn ich wollte, dass du mir einfach das Top über den Kopf zögest? Gemach, lass uns spielen. Du schreibst mir einen Brief wie aus der Zeit von Madame de Staël, jener Grand Dame der empfindsamen Schärfe. Ich sehe sie in ihrem Salon, umgeben von lohnenden Männern, doch mit einem Esprit, der alle überragt. Schreiben ist ihr das Liebste. In der Hochzeit des Briefeschreibens - im 18. und 19. Jahrhundert- ist ein Brief kein Zwischenruf, sondern ein Ereignis. Jeder Satz wird gewogen. Jede Formulierung ist ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, Verführung und Reflexion.

Ein Liebesbrief ist ein Kunstwerk. Ein Gedankenaustausch ist ein Essay. Der Brief ist Bühne und Beichte. Was, wenn ich dich bäte, ach, lassen wir das. 

Furchtsame Ordnung

Ich stehe hier, Cole, in deinem Büro, umgeben von deiner Sprache, die du wie eine Rüstung trägst. Bin ich nicht längst eine Funkerin deines Codes? Dein Büro ist ein Cockpit voller Archivträume. Ich lese dich, berühre deine Spuren. Ich ertaste dich im Papier, rieche dich und respektiere deine furchtsame Ordnung.

Du hast dich eingerichtet wie ein Mensch, der weiß, dass er einen Platz ganz oben knapp verfehlt hat. In Academia spielst du in der Champions League, aber wenn du nach Hause kommst, ist da nur das Ederthaler Einerlei. Manche lieben das Einerlei, ich zum Beispiel. Aber du bist ein Ranchersohn aus Westtexas, aufgewachsen im XXL-Format. Ich genieße mich in deiner schönen Gegenwart, mit meinem Körper, meinem Erleben, meiner Sprache.