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2024-04-19 17:50:39, Jamal

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English Version

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Kinder als Beute

Was zuvor geschah

In der „Marquise von O...“ erzählt Kleist von einer Vergewaltigung und ihren Folgen. In einer frühen Szene präsentiert sich der Täter dem Opfer formvollendet mit „französischer Anrede“. Der Autor schildert einen elegischen Augenblick; eine Supernova der kaltblütigsten Höflichkeit. Galant bietet der Offizier der Fassungslosen einen Arm und führt sie durch einen Granatenhagel zu einem verschonten Festungsflügel. Da sinkt Julietta bewusstlos zu Boden. Bald erscheinen weitere Zivilistinnen. Der Offizier versichert den Panischen, dass zur Besorgnis kein Grund bestünde. Er setzt sich den Hut auf, Kleist bemerkt das Detail, ohne ihm eine Feder anzustecken, „und (kehrt) in den Kampf zurück“.

Meisterlich setzt Kleist die lakonische Manier ein. Zweifellos spielt der Autor auf das Leda-und-der-Schwan-Sujet an. Jahrhunderte lieferte der Leda-Mythos fragwürdige erotische Motive. Auf dem kunstgeschichtlichen Allgemeinplatz blieb ein wesentlicher Aspekt lange unbeachtet. Die affirmative Betrachtung unterschlug einen göttlichen (vulgo männlichen) Übergriff. Sie ignorierte den justiziablen Vorgang. Der als Schwan aufkreuzende Zeus verhält sich so, als sei er auf Ledas Zustimmung nicht angewiesen. 

Der mythologisch-misogynen Zuspitzung setzt Kleist keinen kritischen Punkt entgegen. Am Ende suggeriert der Autor die nachträgliche Zustimmung der Vergewaltigten. Zuvor beschreibt er ausufernd-genau, wie die Umstände liegen, in der Julietta nichts anderes übrigzubleiben scheint, als sich zu fügen.

So geht es weiter

Zunächst erlebt Julietta ihre Schwangerschaft als ein Mysterium. Von ihrer Familie verstoßen, sucht sie den Freitod. Allein, es gelingt ihr nicht, sich zu erschießen. Doch bewirkt der coup de pistolet etwas, das die Seele stärkt. Julietta ruft eine Kutsche, rafft Dinge zusammen, klemmt ihre Kinder unter den Arm, und will schon in wilder Fahrt abfahren. Da tritt ihr Bruder auf und fordert im Namen des Vaters die Kinder.

„Nur über meine Leiche“, erklärt Julietta.

Da erkennt sie sich.

„Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.“

Der Autor bezeichnet die Kinder als „liebe Beute“ der Mutter. Er unterstellt Julietta eine „große Selbstzufriedenheit“, die nach Kleist zu den „heiligen und unerklärlichen Einrichtung(en) der Welt“ gehören.

Julietta müsste am Boden zerstört sein. Stattdessen zieht sie Kraft aus ihrem Desaster. Sie wächst unter dem Druck einem neuen Schicksal entgegen. Geleitet von einem „heldenmütigen Vorsatz“, verbannt sie den Schmerz aus ihren Räumen.

Klösterlich zieht sich Julietta in sich selbst zurück. Sie dichtet sich ab. Gleichzeitig verwandelt sie sich in einen Speicher reiner Fürsorge. Schauplatz der Transformation ist der romantisch vernachlässigte Landsitz ihrer Ehe-Ära. Im Gartenhaus strickt sie Strümpfe und Mützen. Sie arrangiert sich und ist bald wieder im Lot.

Morgen mehr.