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2024-03-28 15:15:21, Jamal

„It is funny how the the majority of whites do not want to face the truth of the real history of America. Your wealth was not given by hard work and justice. It was given by evil and robbing other cultures.“ Eine Stimme aus dem Off der Kommentarspalten

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„Der Schwarze ist die zentrale Figur der Vereinigten Staaten.“ James Baldwin

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„Die Welt ist alt, aber die Zukunft entsteht aus der Vergangenheit.“ Mandingue-Sprichwort, zitiert nach Aya Cissoko

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„Ich war entschlossen, niemals meinen Frieden mit dem Ghetto zu machen, sondern lieber zur Hölle zu fahren, … als meinen Platz in diesem Staat zu akzeptieren.“ JB

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„Die Erfahrung des Schwarzen mit der weißen Welt kann in ihm keinen Respekt für die Normen wecken, nach denen die weiße Welt zu leben vorgibt.“ JB

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„Der Weißen Himmel ist der Schwarzen Hölle.“ JB

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Anlässlich des hundertsten Jahrestages der Sklavenbefreiung, der sich in einer Proklamation vom 1. Januar 1863 manifestiert, kontert Baldwin: „Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh.“

Heimliche Volkshochschule

„Dass die tiefste kulturelle Revolution durch den Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation ausgelöst wurde - in der Kunst, der Malerei, der Literatur, überall in den modernen Künsten, in der Politik und im sozialen Leben im Allgemeinen. Unser Leben wurde durch den Kampf der Marginalisierten um Repräsentation verändert.“ Die Feststellung von Stuart Hall gibt Percival Everetts Roman „James“ die Richtung vor. Der Titelheld ist einerseits ein Sklave auf der Flucht und andererseits eine weltberühmte Literaturgestalt. Everett überträgt einem Charakter die Deutungshoheit, dem sein Schöpfer Mark Twain bloß die Spielräume einer herausragenden Nebenfigur zubilligte. In „Huckleberry Finn“ repräsentiert N… Jim die Marginalisierten. In „James“ gibt Jim/James den Ton an. Seine Emanzipation am Vorabend des Sezessionskrieges basiert auf einem klandestinen Bildungsprogramm.  

„Jim, warst du in Richter Thatchers Bibliothekszimmer?“

„In seim was?“

„Seiner Bibliothek.“

„Nein, Ma’am. Gesehen habbich die Bücher, aber im Zimmer drin warch nich, was sollchn mim Buch?“

Jim unterrichtet andere Sklaven in einer heimlichen Volkshochschule. Er empowert die Schwarze Gemeinde mit Herrschaftswissen. Er weiß, Bildung ist brandgefährlich. Untereinander pflegen die Unterdrückten eine analytische, die Machtverhältnisse dekonstruierende Diskussionskultur. Sie bringen sich gegenseitig auf den neusten Stand. Die reduzierte Diktion im Verhältnis zu den Sklavenhaltern entspricht verbaler Camouflage.

Percival Everett, „James“, Roman, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Hanser, 328 Seiten, 26,-

Jim gestattet es den berühmten Bengeln Huckleberry Finn und Tom Sawyer ihm auf der Nase herumzutanzen. Er beweist eine merkwürdige Nachsicht, die im narrativen Nachgang eine verblüffende Erklärung findet.

Everett folgt der berühmten Vorlage und weicht zugleich von dem klassischen Riemen ab, indem er der Schwarzen Perspektive jeden anderen Standpunkt unterordnet. Jim erfährt, dass er veräußert werden und folglich von seiner Familie getrennt werden soll. Er flieht, um seinem Schicksal eine persönliche Note zu geben. Unterwegs trifft er den von zuhause ausgerissenen Huck. Gemeinsam bestehen sie jede Menge Abenteuer auf und neben dem Mississippi.

„(Der Mississippi) war eine gewaltige Straße in ein unheimliches Nirgendwo.“

Jim erscheint als Lehrmeister eines aufgeweckten Knaben. Er wechselt von Jim zu James. Die Weißen findet James ebenso „leichtgläubig wie grausam“. Er mokiert sich über weiße Attitüden. Der Firnis vorgeblicher Überlegenheit ist hauchdünn. Das hält viele nicht davon ab, unter den Vorzeichen äußerster Dürftigkeit und Verworfenheit, wahnsinnige Herkunftslegenden zu verbreiten. Auf einem klapprigen Floss und in der Gesellschaft von Versprengten verkündet ein nomadisierender Scharlatan, er sei der in einem Fass aus dem revolutionären Frankreich herausgeschmuggelte Sohn von Ludwig XVI. und Königin Marie Antoinette.

„Das Gedränge war unausstehlich. Aus der Mitte der Eindringlinge begrüßten den König … die gröbsten Injurien. Er wurde Hahnrei … Schwein … genannt. Unterdessen machte Seine Majestät eitle Versuche zu reden.“ Konrad Engelbert Oelsner über die Ereignisse rund um den 20. Juni 1792, als bewaffnete Sansculotten in die Tuilerien eindrangen, wo Ludwig XVI. und Königin Marie Antoinette in ihrem Palast das Dasein von Festgesetzten fristeten, die den revolutionären Furor artig begrüßen mussten. Der degradierte König sagte zu allem Ja und Amen, was ihm am Leben zu bleiben versprach. Der vormals absolutistische Herrscher figurierte als Hampelmann mit Krone. Oelsner sah ihn gute Miene machen zum bösen Spiel der Stürmer und Dränger.

„Der ehemalige Gebieter vieler Millionen Menschen, die mehr taugten als er … saß da - Sie kennen die bourbonische Ungestalt - mit einer erzwungenen heiteren Miene, wie Pulcinello, wenn er trotz einer heftigen Kolik im Fastnachtspiele lustig sein muss.“

Diese Beschreibung eines gestürzten Sonnenkönigs passt auch zu dem größten Aufschneider in dem jämmerlichen Wasserfahrzeug. Der „König“ bramarbasiert routiniert. Seine Prahlereien erreichen die Dimensionen des amerikanischen Klassikers, der das Maß vorgibt. Everetts Huck beweist auf dem Hochseil schierer Übertreibung seine Satisfaktionsfähigkeit. Er lügt, dass sich die Balken unter den blanken Sohlen biegen. Er spinnt sich eine Welt zusammen, auch deshalb, um plausible Erklärungen für Jims/James‘ Existenz als einigermaßen freier Mann aufzubieten.

Das Amerika des 19. Jahrhunderts ist ein Spielplatz der Anti-Psychiatrie. Die Irren Europas fluten den Kontinent mit ihren Ideen. Der Bodensatz findet sich grandios und nennt sich Gentleman. In Amerika bricht das Kartenhaus der monarchistischen Legitimation zusammen, während im Trubel der Selbstermächtigungen Identitäten Karussell fahren. In diesem Treibhaus der sozialen Evolution erfindet sich auch James neu. Zum Schluss liefert Everett Szenen im Stil von Quentin Tarantinos Django Unchained. Gerade fällt mir ein, dass Roxane Gay* nachgezählt hat: in diesem Film „kommt das N-Wort in nicht ganz drei Stunden hundertzehn Mal vor“.  

*Gay beschäftigt sich in ihrem Essayband „Bad Feminist“ mit dem rassistischen Hollywood.

Aus der Ankündigung

Jim spielt den Dummen. Es wäre zu gefährlich, wenn die Weißen wüssten, wie intelligent und gebildet er ist. Als man ihn nach New Orleans verkaufen will, flieht er mit Huck gen Norden in die Freiheit. Auf dem Mississippi jagt ein Abenteuer das nächste: Stürme, Überschwemmungen, Begegnungen mit Betrügern und Blackface-Sängern. Immer wieder muss Jim mit seiner schwarzen Identität jonglieren, um sich und seinen jugendlichen Freund zu retten. Percival Everetts „James“ ist einer der maßgeblichen Romane unserer Zeit, eine unerhörte Provokation, die an die Grundfesten des amerikanischen Mythos rührt. Ein auf den Kopf gestellter Klassiker, der uns aufrüttelt und fragt: Wie lesen wir heute? Fesselnd, komisch, subversiv.

Zum Autor

Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreißig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award in Literature der American Academy of Arts and Letters, dem Windham Campbell Prize und dem PEN/Jean Stein Book Award. Auf Deutsch erschienen bislang „Ausradiert“ (2008), „God‘s Country“ (2014) und „Ich bin Nicht Sidney Poitier“ (2014). Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Erschütterung (2022) und Die Bäume (2023).