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2024-02-20 21:13:37, Jamal

Phantasmagorische Zwiesprache

Sie wachsen in förmlichen Elternhäusern auf und erleiden in parallelen Entwicklungen die Implosionen der Entfremdung. Akut bedroht sind sie von seelischer Verkümmerung. Nur einmal überragen sie den Schemarahmen ihrer Generationskohorte: als Gewinner:innen von Nebenpreisen bei einem Aufsatzwettbewerb. Die unscheinbaren Sieger:innen freunden sich an. In der Exklusivität einer phantasmagorischen Zwiesprache verbinden und erhöhen sie sich.  

Haruki Murakami, „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, Roman, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont, 640 Seiten, 34,-

Paradiesische Auen

Namenlos bleiben beide. Die Geliebte erscheint als Schöpferin einer Welt, der Geliebte erschöpft sich in der Rolle des Chronisten. Im Zentrum der gemeinsam gestalteten Fiktion steht eine Stadt, gesäumt von einer acht Meter hohen Mauer. Ein Fluss teilt sie. Seine Ufer sind paradiesische Auen. Gehörnte Fabelwesen weiden von früh bis spät vor den Toren. Die menschlichen Bewohner sind Internierte.

„Wer die Stadt betritt, darf keinen Schatten haben, doch wer keinen Schatten hat, darf die Stadt nie mehr verlassen.“

Die Geliebte erklärt: „Mein wahres Ich lebt dort und ist in der Bibliothek beschäftigt.“ 

Die Tochter eines Deklassierten, ihr Vater fiel einst wegen eines „Missgeschicks“ in Ungnade, führt ein Traumtagebuch. In langen Briefen teilt sie sich dem Geliebten mit. Er reagiert mit der gebotenen Ausführlichkeit. Schließlich endet der Schriftverkehr im Verstummen der Geliebten. Das Ausbleiben der Liebespost stürzt den Erzähler in eine lebenslange Krise.

Die junge Frau entzieht sich auch räumlich dem - ihr heillos verfallenen - Verehrer. Fortan schwelgt er in Erinnerungen an einen Erlebnisrausch.

In der Handlungsgegenwart memoriert ein Buchhändler in seinen mittleren Jahren so monoton wie obsessiv die Sensationen einer verlorenen Zeit. Gemessen am Anpassungsdruck in einer konformistischen Gesellschaft führt er - einigermaßen unangefochten - ein beschauliches Junggesellen-Dasein. Die Zeitgenossen ignorieren seine soziale Lethargie. Er beschreibt seine Verhältnisse als bescheidene Existenz in einer vormals besseren Gegend. Dabei wohnt er lange in dem Tokioer Hotspot-Bezirk Nakano, bekannt auch als Otaku-Himmel. Der Nakano Broadway und die Nakano Sun Mall Shotengai üben eine magnetische Wirkung auf Antiquitäten- und Raritäten-Sammler:innen aus.  

*

Gelegentlich befreit der Erzähler sein Bewusstsein „aus dem Käfig seines Körpers“. An seinem fünfundvierzigsten Geburtstag stürzt er in ein Loch und verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in einer anderen Welt.

In Haruki Murakamis magischem Realismus erscheint das Surreale oft banal-real. Es verbindet sich mit einer Topografie voller irdischer Marken. 

Nach dem Unfall lässt sich der Erzähler - fünf Zugstunden von Tokio entfernt - in einer ländlich-alpinen Gegend nieder. Er übernimmt die Leitung einer öffentlichen Bibliothek. Sein Vorgänger entpuppt sich als Geist. Direktor Koyasu zieht Röcke Hosen vor. 

Aus der Ankündigung
 
Zum 75. Geburtstag eines der wichtigsten Autoren unserer Zeit – der neue große Roman von Haruki Murakami
 
Eine ummauerte Stadt, die nur betreten kann, wer seinen eigenen Schatten zurücklässt: Hier lebt das wahre Ich des Mädchens, in das sich der namenlose Erzähler mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt. Er macht sich auf die Suche nach ihm, gelangt in die Stadt und ihre geheimnisvolle Bibliothek, doch das Mädchen erkennt ihn nicht mehr.
Unter rätselhaften Umständen gerät der Erzähler zurück in die Welt jenseits der Mauer. Er zieht nach Tokio, arbeitet im Buchhandel, hat wechselnde Freundinnen. Die Erinnerung an das Mädchen und die ummauerte Stadt lässt ihn nicht los. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bücherei in der Präfektur Fukushima an. Die Realität gerät knirschend ins Wanken – und der Erzähler muss sich fragen, was ihn an diese Welt bindet.
Ein melancholischer, zärtlicher und philosophischer Roman über eine verlorene Liebe, die Suche nach dem Selbst und die Möglichkeit, Mauern zu überwinden.
 
Zum Autor
 
Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane ›Die Ermordung des Commendatore‹ in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung ›Die Chroniken des Aufziehvogels‹ (2020), der Erzählband ›Erste Person Singular‹ (2021), ›Murakami T‹ (2022) und ›Honigkuchen‹ (2023).
 
Zur Übersetzerin
 
Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Yukio Mishima, Hiromi Kawakami und Sayaka Murata. Für DuMont überträgt sie die Werke Haruki Murakamis ins Deutsche. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.