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2024-02-15 21:22:27, Jamal

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Campen im Nirgendwo

„Von nahen Dingen und Menschen“ betitelt eine Glossensammlung. Dreh- und Angelpunkt der ausgebauten Notizen ist die Pandemie ab Februar 2020. Corona bot sich Adaptionen von Szenen an, wie sie Giovanni Boccaccio im „Decamerone“ schildert. Boccaccio machte ein Landhaus vor Florenz zum Schauplatz einer Begegnung Heimgesuchter anno 1348. Sieben Frauen und drei Männer sind vor der Pest in die florentinischen Hills geflüchtet. Angehoben von Sommerfrische-Empfindungen und gedämpft von Angst stellen sie die Gegenwärtigkeit eines schrecklichen Todes in den Glanzschatten der Erzählkunst. Die Pest ist ein Motor der Renaissance.

Hanns-Josef Ortheil, „Von nahen Dingen und Menschen“, Dumont, 288 Seiten, 24,-

Hanns-Josef Ortheil beschreibt die Impfeuphorie im Freundeskreis nach einer Zeit der bangen Separation. Er rezensiert die Manier der Sportberichterstattung und kritisiert den häufig unsinnigen Gebrauch des Wortes „definitiv“.

Der Autor hält Einfälle fest. Mitunter haben die Einfälle den Charakter von Seitenhieben. Doch meist illuminiert ein freundliches Einvernehmen die Aufzeichnungen. Ein Reisebuch von Thomas Böhm erlaubt es Ortheil, die schöne Wendung vom „Campen im Nirgendwo“ unterzubringen. 

Ortheil teilt sich mit in der ganzen Breite seines Alltags. Wie er sich morgens fühlt, vom Schlaf womöglich gelangweilt, begierig darauf, den Tag zu beginnen. Das ist seine Signatur: eine zeitgenössische Interpretation des apollinischen Prinzips, mit ein paar melancholischen Anwandlungen. Gleichwohl realisiert er die apokalyptische Dimension.

„Die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts wird man einmal als eine Zeit zuvor unvorstellbarer Katastrophen erkennen.“

„Ich habe viele Freunde“, schreibt Ortheil. Er lebt im ständigen Austausch mit Leuten, die in praktischen Berufen arbeiten und vor Alltagstauglichkeit strotzen. Er teilt seine Lesefrüchte - eine Querbeet-Lese.

Eine Passantin überrascht er mit der Bemerkung: „Ich nehme … Kontakt mit dem neuen Tag auf.“ Der Satz könnte einem Roman von Wilhelm Genazino entnommen sein. Mit Genazinos verschrobenen Helden hat Ortheil sonst nichts gemeinsam. Er ist ein registerreicher Verkehrsteilnehmer, der auf seine Ansichten mit ruhiger Entschiedenheit Wert legt.

Aus der Ankündigung

In diesen Kolumnen und kurzen Prosatexten umkreist Hanns-Josef Ortheil das Zeitgeschehen der letzten fünf Jahre. Meist entzündet sich die Erzählung an einer Begebenheit, einer Nachricht, einer Begegnung – und führt ins Autobiografische, Philosophische oder auch Humoristische. In seinen Schilderungen verdichteter Lebensmomente, fiktiver Begegnungen und kurzer Geschichten aus der Kindheit benutzt Ortheil ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Ausdrucksformen: Reflexionen, Erinnerungen, Dialoge und essayistische Betrachtungen. Das ist mal tiefschürfend, oft heiter bis hymnisch, zuweilen kurios und immer wieder selbstironisch.
Seine Texte zeichnen die genaue Beobachtung aus sowie bestechende Metaphern, hintersinnige Bezüge und gedankliche Verschränkungen, etwa wenn Hanns-Josef Ortheil die agile Kontaktfreude der Pinguine beschreibt oder erklärt, warum sich die Bilder Jan Vermeers vierhundert Jahre nach ihrer Entstehung so großer Beliebtheit erfreuen. Stets führen seine Aperçus zu einer Pointe, weiten sich vom Privaten oder auch Zufälligen zum Allgemeinen.

Zum Autor

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Sein Gesamtwerk umfasst mehr als siebzig Buchveröffentlichungen. Hanns-Josef Ortheil zählt zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern der Gegenwart. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.