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2024-01-08 20:19:05, Jamal

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Haderlump

In meiner Kindheit vor bald sechzig Jahren war Haderlump noch ein gängiges Schimpfwort. Ich wusste nichts damit anzufangen; es erschloss sich mir nicht. Meine mit sämtlichen Ressentiments gespornte, dabei herzensgute Großmutter sprach oft von Haderlumpen. Doch waren das stets Leute außerhalb meiner Umgebung, so dass ich die Anschauung entbehrte. Eben las ich, dass Haderlump eine Tautologie ist. „Hader bezeichnet im Mittelhochdeutschen ein Lumpenstück“. Als man Parzivals Mutter Herzeloyde das Hemd ihres gefallenen Mannes übergab, war „daz hemde ein hader“, sprich ein Lumpen. Zitiert aus „Verschwundene Wörter des Mittelalters“ von Michael Schwarzbach-Dobson

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„So hatte Goethe von Lord Byron gesagt, dass ihm die Welt durchsichtig sei und dass ihm ihre Darstellung durch Antizipation möglich.“ Johann Peter Eckermann 1824

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“I am the person I dream to be.” Gesehen auf Instagram, Alice Maisetti, Quelle

Am 29.12. 2022 in Ahrenshoop © Jamal Tuschick

Akademien der Liederlichkeit

Bis zur Französischen Revolution erhielten nur Schranzen das königliche Casino-Privileg. Der Spielbetrieb fand in einem Freudenhaus statt. Damit sollte nach der Absetzung des letzten Ludwigs Schluss sein, trotzdem betrieben und besuchten solche Orte 1793 dieselben Leute wie zuvor. Damit hielt sich der deutschamerikanische Freiheitskämpfer, Journalist, Diplomat und Agent Berman von Pechstein wochenlang auf. Er stiefelte durch die Akademien der Liederlichkeit und berichtete den Leser:innen der Virginia Gazette von Schnapphähnen mit am Leib schmählich verborgenen Waffen. Er plauderte aus dem Nähkästchen charmanter Compagnien. Aus der derangierten Oberschicht Gefallene brachten ihre hochwohlgeborenen Eltern und Großeltern mit Sexarbeit durch. Für einen Louisdor konnte man die Nacht durchtanzen und sein Elend vergessen. Parolen und Klopfzeichen dichteten das Geschehen gegen die Revolutionswächter ab. In den Verließen des Vergnügens kursierten noch die Titel des Ancien Régime. Manche Gräfinnen trieben die Kuppelei so weit, dass sie die eigenen Töchter anboten.

Der radikale Demokrat Pechstein fand die entmachtete Aristokratie ohne Halt und völlig belanglos. Dass sie so schlapp und verworfen die Revolution einfach überleben würde, um bei der nächsten Restauration förmlich wieder aufzuerstehen, war für den Vorgänger von Gertrude Stein und Ernest Hemingway (als publizierender Amerikaner in Paris) unvorstellbar.   

Soziale Stoffwechselfunktionen

An den Höfen der Ludwigs verstand man das Geschäft des Speichelleckers als Lehrberuf. Unterwürfigkeit spielte mit Gelenkigkeit zusammen in Allianzen, die uns zwar nichts mehr sagen, den Damaligen aber bis zur Gleichgültigkeit geläufig waren und natürlich erschienen - da sie soziale Stoffwechselfunktionen erfüllten. Als die Revolution den Hof wegfegte, ergaben sich für seine Milieus oft nur Rinnsteinlösungen, wenigstens im Vergleich mit einem beim Sonnenkönig akkreditierten Speichellecker.

Wer zum Fintieren erzogen worden war, konnte sich als Spieler und Rummelplatzfechter durchbringen. Dealer ging auch. Drogen waren in allen Boutiquen der Anschauungen rasend begehrte Gebrauchsgegenstände. In einem Beitrag vom 21. August 1793 rückte Pechstein Drogen in einen überzeitlichen Rahmen. Der Wein habe „die alte Welt stärker geprägt als jede Waffe“. Pechstein vermutete, dass die verflossenen Jahrtausende Wirkungen des Weins geschwächt hatten. Pechstein erinnerte an Weinfeste der Götter, die wie Kokainorgien über den Horizont gegangen waren. Er betrachtete den gelinden Rausch seiner Zeitgenoss:innen als kultivierendes Moos auf den Findlingen der Gewalt. Wein stellte er als eine Sache heraus, die Eroberungszüge überdauere. Tabak war das „Geschenk Amerikas an Europa“.  

Pechstein beobachtete die Revolution in Paris für die Virginia Gazette. Er residierte im 8. Arrondissement am Place de la Révolution (heute Place de la Concorde) im konfiszierten Hôtel de Crillon. Das Palais entstand nach Plänen des Architekten Louis-François Trouard. 1788 hatte es Louis Berton des Balbes de Crillon erworben. Seine Erben wurden 1820 restituiert.

Am 21. Januar 1793 fand die Hinrichtung von Ludwig XVI. direkt vor Pechsteins Haustür auf dem größten Platz von Paris statt. Pechstein machte ein Vermögen mit der Vermietung seiner Balkone und Terrassen. Als Veteran des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges war er nichts weniger als zimperlich und schon gar nicht royalistisch. Karikaturen zeigen ihn unter ätzenden Überschriften als reitenden Boten der (oft als Brand dargestellten) Weltrevolution. Vorbemerkungen zu einem nie ausgeführten Gedicht tragen den Titel Das Lächeln der Guillotine. Den Augenblick der royalen Enthauptung begrüßte Pechstein mit der Feder im Anschlag.

Dem Henker widmete er einen Aufsatz. Charles Henri Sanson zählte zu den berühmtesten Männern Frankreichs. Freudlos zwar, doch mit Fleiß, versah er sein Amt. In Paris hatte er keine Kolleg:innen. Er richtete im Akkord hin. Das Amt war im Erbgang auf ihn gekommen. Morgen mehr.