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2023-12-15 16:42:36, Jamal

Doppeltes Verhängnis

„Erasmus emanzipierte die Bibelleser, indem er sie gegen die Wörter wappnete … Luther machte die Bibelleser den Wörtern gegenüber wieder fügsam.“ Sandra Langereis

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Nach der potentiell tödlichen Stigmatisierung Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521, dem von Papst Leo X. umgehend verhängten Kirchenbann und der verspäteten kaiserlichen Acht hält Erasmus die Reformationsbewegung für gescheitert. Er selbst fühlt sich nicht zum Anführer des evangelischen Tempelsturms berufen.  

„Also zurück in die Zelle, alter Mann, und verhänge die Fenster gegen die Zeit“, lässt Stefan Zweig seinen Helden Erasmus selbstgesprächig munkeln.

Der Rückzug provoziert ein doppeltes Verhängnis. Den Apologeten des protestantischen Projekts erscheint Erasmus lau. Die Restauratoren schimpfen ihn den „Anstifter der Lutherpest“ (Stefan Zweig).

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„Je mehr Not sittliche Antriebe abstumpft, umso sicherer wird der versunkene Mensch sich neue Götzen schaffen. Denn etwas muss er haben, wovor er knien kann.“ Jacob Burckhardt

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick 

Missachteter Niemand

Ein Sohn der „wahnsinnigen Johanna“ ist König von Kastilien und Aragón und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Der Mann heißt Karl. Erasmus von Rotterdam war an seiner Ausbildung beteiligt. Im Kampf gegen die Reformation spielt der Habsburger die führende Rolle. Erst sein Sohn wird sich König von Spanien nennen. Das erklärt die koloniale Standortbestimmung Nueva Castilla. Francisco Pizarro González dient Karl als Capitán general. Im Dunstkreis des Konquistadors intrigiert der von einer ledigen Mutter früh ausgesetzte, vom Straßenkind zum „Eroberer“ aufgestiegene Diego de Almagro. Bei einem handfesten Streit um den Inkaschatz zieht er den Kürzeren gegen Gonzalo, Juan, Hernando, Francisco Pizarro und Francisco Martín de Alcántara. Gonzalo, Juan und Hernando sind Franciscos Brüder. Francisco Martín de Alcántara macht als Halbbruder mit. Da geht eine ganze Familie auf Raubzug. Ihr behilflich zeigt sich Hernando de Soto.   

Gouverneur Pizarro schickt seinem König das „königliche Fünftel“ vom Lösegeld, mit dem Atahualpa seine Freiheit doch nicht erkaufen kann. Dem Inka steht die Hinrichtung bevor, er hat einen hohen Preis dafür bezahlt.

Was für ein Irrsinn! Armeen stehen zu seiner Befreiung bereit. Die fittesten Typen des Reichs drehen ihre Runden um den Schauplatz gottköniglichen Scheiterns. Atahualpa müsste nur die Hand heben und ein Sturm bräche los. Frauen und Kinder würden die Krieger mit Haushaltsgegenständen unterstützen. Kochtöpfe und Nachtgeschirre geben erstklassige Wurfgeschosse ab.

Aber nichts! Erst lässt der König sein Volk plündern, um sein Leben zu retten und dann lässt er sich erdrosseln. Dafür erhält Pizarro 57.220 Pesos in Gold und die Thronplatte. Er wird sich auch noch rührend um Almagro kümmern.

Jeder Reiter kriegt neuntausend Pesos in Gold und dreihundert in Silber, ein Fußknecht die Hälfte.

Ist alles geregelt. Raub und Mord nach Tarif. Auf der Ebene der Hauptleute, ich erwähnte Hernando de Soto und Francisco Martín de Alcántara, ist das Blutgeschäft Verhandlungssache, eine Frage des Geschicks. Im Generalstab erwartet man von den Hauptleuten Gier als Garant des vollen Einsatzes. Es wird zwar in jedem zweiten Satz Jesus erwähnt, aber der wahre Gott der Spanier ist ein Metall.

Dahergelaufene verschaffen sich Vermögen mit Brutalität. In ihrer Freizeit schalten sie von brutal auf burlesk um. 

Auch Bruno Carrera war ein drakonisch missachteter Niemand in der Alten Welt. Als Sohn einer ledigen Magd kam er mit einer Fehlbildung zur Welt. Man glaubte, der Teufel habe den Knaben auf den Mund geküsst, selbst die Verworfenen in den Subkulturen der Häfen mieden das Kind mit dem Wolfsrachen.

In der Neuen Welt genießt Bruno die befreiende Erfahrung, dass die ursprüngliche Bevölkerung sich an ihm nicht stößt. Sein Anblick erschreckt keinen „Wilden“.   

In Amerika ist Bruno zum Casanova geworden. Dazu bald mehr.

Die „Eroberer“ müssen ihre Ausflüge selbst finanzieren. Pizarro und seine Brüder sind Verpflichtungen eingegangen, während ihre Haudegen und Laufburschen ohne Besitz und Belastungen an Land kamen. Sie brachten bloß ein Schwert und die Badehose mit.

Nun haben sie sehr viel mehr.  

Pizarro kann auf Almagro nicht verzichten. Er schickt ihn als Emissär los. Almagro durchstreift altes Siedlungsland. In den Dörfern herrschen Kaziken. Politik ist Agorageschehen. Man trifft sich in der Mitte zwischen Rummel und Wochenmarkt. Die Allgewalt Atahualpas entspricht an dieser Peripherie nur noch einer abstrakten Ausstrahlung.

Das sind andere Leute als in Cajamarca, denkt Almagro. Er vermutet ein Inka-Gegenreich, eine zweite Großmacht in der Gegend von Quito.

Atahualpas eingeengte Lage wirkt sich aus. Der Inka-General Rumiñahui bedrängt selbstermächtigt die lokalen Herrscher, er reagiert auf ein Machtvakuum. Almagro rekrutiert Auxiliar-Truppen. Er sucht das Gespräch mit Sebastián de Belalcázar, der eine Vorhut anführt, die ständig in Scharmützel verwickelt wird. Beide Anführer erheben Ansprüche, die über ihre Mandate hinausgehen. In ihnen arbeitet die Einsicht, dass jeder entlaufene Schweinehirt in Amerika Vizekönig werden kann, sofern er nur genug Gewalt auf sich vereint. Morgen mehr.