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2023-12-15 16:34:54, Jamal

Nüchterne Träumer

Als Macht und Bildung nach nicht zusammengehörten, hatte es die Bildung leicht, in die Nähe der Macht zu kommen, da sich die Macht von der Bildung nicht in Frage gestellt wähnte. Die Bildung nutzte der Macht, ohne Macht zu erlangen. Ihre Akteure dienten als Redenschreiber und Hofnarren. Das beschreibt die Krux des Humanismus. Die Humanisten hielten sich für eine Kraft zwischen den Polen Restauration und Reformation. Erasmus lieferte mit seiner Existenz das schönste Beispiel für ein Dilemma. Hätte er sich offensiv gegen Luther gewandt, wäre er Bischof geworden. Wäre er mit Luther marschiert, hielten wir ihn heute für den größten Protestanten.  

Allgemein erschienen die Akteure des Humanismus als „honette, ein wenig eitle Pedanten, die ihre lateinischen Namen trugen wie eine geistige Maskerade“. Stefan Zweig unterstellt ihnen die „Pedanterie“ von Paukern. Eine „professorale Naivität“ verstellte den Blick auf die harte Wirklichkeit. Zweig findet das schöne Wort vom „nüchternen Träumer“, der sich in seinem Elfenbeinturm eine einwandfreie Welt konstruierte. Von dem Feuer und der Leidenschaft im Massen- und Machtmenschen wollte er nichts wissen. Bei Luther endete die Versöhnlichkeit. Jene, die eine Kirchenreform ohne Schisma für möglich hielten, verloren ihre Stimmen an die Schreier der Reformation und deren Gegner.

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„Der organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen. Diese akademischen Idealisten glaubten schon zu herrschen, weil ihr Reich weithin reichte, weil sie in allen Ländern, Höfen, Universitäten, Klöstern und Kirchen ihre Diener, Gesandten und Legaten hatten … aber im tiefsten umfasste dies Reich doch nur eine dünne Oberschicht und war schwach verwurzelt mit der Wirklichkeit.“ Stefan Zweig

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In seiner Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ exponiert Zweig den Gegensatz zwischen der zarten, wenn nicht dürftigen Konstitution des epochalen Gelehrten und den wilden Kraftnaturen der Renaissance und der Reformation“.

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„Nirgends ein Zug vordringender Kühnheit“, salbadert Johann Caspar Lavater, laut Zweig. Erasmus tauge nicht zum Märtyrer. Zweig spricht von einer allseits bekannten „Charakterschwäche“. Ferner spricht er von Konquistadoren des Geistes. Das Jahrtausendverbrechen des Kolonialismus thematisiert er indes nicht.  

Mörderisch rücksichtslos und verwegen bis zum Wahnsinn ist Francisco Pizarro González.

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Lateinamerikanisches Verderben

Im Herbst 1531 bringt Francisco Pizarro González den Inka Atahualpa in seine Gewalt. Damit hat keiner gerechnet. Anders als in das lateinamerikanische Verderben vorangegangene Staatsoberhäupter verklärt Atahualpa die Spanier nicht. Der Inka hatte sich strategisch in seine Sommerresidenz Cajamarca zurückgezogen, um „die Eroberer“ zu isolieren. Der letzte koloniale Außenposten liegt tausend Meilen hinter Pizarro.

Atahualpas mannschaftliche Überlegenheit ist erdrückend. Die Hooligans des Königs rasieren sich gegenseitig die Schädel mit ihren Streitäxten. Sie liegen vor Cajamarca auf der Lauer und warten auf ein Zeichen des gefangenen Gottes.

Sollte die Niederlage, die zu seiner Inhaftierung geführt hat, Atahualpa gebrochen haben?

Auf keinen Fall! Vielmehr will Atahualpa die Massakerkompetenz des fremden Feldherrn für seine Zwecke nutzen. Geschütze und Pferde bedeuten eine gewaltige Aufrüstung. Aus Atahualpas Männern Reiter zu machen, ist zudem eine gewaltige Aufgabe. Diese Männer fürchten Pferde.

Darum geht es. Atahualpa erkennt die Überlegenheit des anderen an, viertausend tote Krieger in einem militärischen Aufwasch haben ihn überzeugt.

Jetzt will er mit Pizarros Hilfe Rivalen schlachten. Das kann er seinen Leuten aber so nicht sagen. Es sind zu viele auf dem Feld geblieben, als dass man dem Gemeinen klar machen könnte, dass der Schlächter von gestern, jetzt „unser bester Mann“ sein soll.

Atahualpas Dreschflegel und Gassenhauer verstünden sonst die Welt nicht mehr. Jeder will Pizarro kaltmachen. Was denn sonst?

Totaler Stumpfsinn

Wochen und Monate im Sattel zermürben jedes Gesäß. Pizarros Männer sind ausgelaugt. Sie schlafen im Stehen, es ist beschämend heiß. Man kriegt schlecht Luft. Man kommt nicht aus dem Harnisch. Es juckt überall, die Haut entzündet sich immer weiter. Die Sache ist nur im totalen Stumpfsinn zu ertragen.

Ein Volk sucht die Nähe zu seinem Gott. Familien streben Cajamarca von überall her an. Die Pilger:innen besetzen die Anhöhen vor der Stadt - in Erwartung einer Offenbarung.

Atahualpas Feinde unterbreiten ihre Angebote. Töte Atahualpa und wir schippen noch jede Menge Gold auf den Lösegoldhügel. Atahualpa hat seinen Bruder Huàscar auf dem unbelasteten Gewissen, die Profiteure des Huàscar-Regimes wollen sich nicht von ihren Pfründen trennen. Die peruanische Nomenklatura scheint am Ende ihrer Höflichkeit angekommen zu sein.

Das interessiert Pizarro wenig. Zum Job eines Eroberers gehört die Gründung von Siedlungen, die Christianisierung und Versklavung der Einheimischen so wie der Raub von allem Wertvollen.

Pizarro hat also andere Sorgen. Tag und Nacht brennen Feuer auf den Hügeln vor der Stadt. Immer mehr Königstreue strömen zusammen. Nur Atahualpas Autorität gebietet ihnen Zurückhaltung. Ihre Aufstandsbereitschaft lässt sich mit Händen greifen.

Bruno Carrera, der mit dem Mexiko-Plünderer Cortés durch die Hölle ging, und nun Pizarro den Rücken freihält, erinnert sich in den Memoiren eines Dreschflegels: „Anspannung löste ein Fieber unter uns Christen aus. Wir wähnten uns auf einem Kreuzzug und hielten uns aufrecht im Andenken an die Märtyrer.“

Pack im Harnisch

Atahualpa prahlt vor seinem Bezwinger, zugleich zeigt er sich unterwürfig. Er bietet Pizarro alles an, so wie er an Pizarros Stelle von einem Unterlegenen alles nehmen würde. Er kriegt noch ein Problem, da Diego de Almagro mit der Nachhut aufkreuzt.

Kundschafter zählen zweiundzwanzig räudige Reiter und hundertsiebenundachtzig Fußkranke mit fürchterlichen Ausschlägen. Längst ist Cajamarca zum Gefängnis auch für die Eindringlinge geworden; ein Wunder, dass Atahualpas Athleten Almagros bewaffnetes Pack durchgelassen haben.

Der unehelich geborene und schon als Kleinkind ausgesetzte Almagro kam als Trossknecht in die Neue Welt. Da begann seine Glückssträhne.

Pizarro ist Almagros Vorgesetzter. Wir müssen uns kurz Pizarros rechtliche Stellung ansehen. Euch erscheint er als Dieb und Mörder, als Vergewaltiger von Völkern und Vernichter von Kulturen. Ich teile diese Sicht. Doch seine Epoche trifft Pizarro als Gouverneur von Nueva Castilla. In der Arbeitsplatzbeschreibung steht: Befriede und bevölkere Peru. Morgen mehr.