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2023-12-14 10:10:25, Jamal

Epochaler Rang 

Erasmus von Rotterdam legte die Lunte an alte Kirchengewissheiten. Andere wären für geringere Überschreitungen als Ketzer verbrannt worden. Erasmus narrte nicht nur die Inquisition, er avancierte auch zu einer europäischen Institution. Im Zenit seines Ruhms bestritt niemand seinen epochalen Rang. Trotzdem blieb ihm der Abstieg nicht erspart.  

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„(Mit) Erasmus wird der Schriftsteller erstmals eine europäische Macht neben den anderen Mächten.“ Stefan Zweig, „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“

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„Zum Teufel mit den Zechkumpanen mit gutem Gedächtnis.“ Aus der Sprichwörterbuch Adagia; zitiert nach Sandra Langereis, die in ihrer Erasmusbiografie die mehr als dreitausend Redensarten kompilierende Zitatensammlung als „europäisches Ereignis“ feiert.

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„Ich bin schon einige Male k.o. gegangen. Jedes Mal blitzte es weißlich auf, dann wurde es langsam dunkel. Gegen Sonny Liston wurde es sofort finster.“ Albert Westphal, Deutscher Schwergewichtsmeister in den 1950er Jahren

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„Jeder Brief, den Erasmus schreibt, wird vom Empfänger in Brokat eingeschlagen und vor ehrfürchtigen Freunden wie eine Reliquie enthüllt, eine Empfehlung gar des Meisters öffnet als Sesam alle Türen, - nie hat ein einzelner Mensch, nicht Goethe und kaum Voltaire, eine solche weltgebietende Macht in Europa bloß kraft seines geistigen Daseins besessen.“ Stefan Zweig

Am 10.02. 2023 im Berliner Frischeparadies © Jamal Tuschick

Gewalt als Motor des Fortschritts

Im Herbst 1531 gelingt Francisco Pizarro González die Festnahme des Inka Atahualpa. Er hat einen Mann in der Hand, dem ein Volk aufs Wort gehorcht. Eine hochgezogene Herrscherbraue und alle werfen sich in den Staub. Die Peruaner:innen betrachten Atahualpa als einen blutsaufenden Gott. In den „Prozessen der Zivilisation“ klassifiziert Norbert Elias Machthunger und Gewalt als Motoren des Fortschritts. Zur Bigotterie kolonialer Vergewaltigungspolitik gehört, den Königen vor Ort zu wenig Schliff und zu viel plumpes Kopf-ab bei der Staatsführung vorzuhalten.

Pizarro weiß, dass Atahualpas Gefangenschaft die gottkönigliche Autorität untergräbt, man kennt das Phänomen aus Mexiko. Der von Cortés gekidnappte Azteke Moctezuma war von seinen eigenen Leuten gesteinigt worden. Die hatten einem Unfreien schlicht und ergreifend nicht mehr abgenommen, dass er ein Gott ist.

Moctezuma hatte Cortés für einen Ahnen gehalten. Das erklärt seine Kooperationsbereitschaft, die in Gefügigkeit mündete und den Tod zur Folge hatte.

Moctezuma sah in seinem größten Feind einen Urgroßvater.

So blöd ist Atahualpa nicht. Der Inka rechnet den Zwischenfall, was für ein Wort für das Desaster, man erkennt daran den Diplomaten, die exzellente Ausbildung und Vorbereitung für das höchste Amt, zum Kriegsgeschick.

Nebenbei, die Wortwahl siegt.  

Atahualpa fügt sich nicht. Er hält den Spanier nicht für einen göttlichen Kollegen. Er geht mit großem Gefolge in Gefangenschaft, er könnte sich noch nicht einmal selbst die Nägel kürzen.

Er betreibt seinen Freikauf. Dabei bemerkt er, dass jedes königliche Angebot die Gier der Fremden anstachelt. Man setzt ihm den Dominikanermönch Vicente de Valverde wie eine Laus in den Pelz. Der Missionar sülzt und schmeichelt, Pizarro knurrt und murrt.  

Ein Heer steht zu Atahualpas Befreiung bereit - die Adlerfront. Die Athleten ersehnen den Befehl zum Losschlagen - auf ihrem Territorium. Tausend Meilen entfernt von der nächsten spanischen Siedlung.

Atahualpa gibt das Zeichen nicht, und die Adler haben keinen Netzer in ihren Reihen. Keinen, der sich selbst ins Spiel bringt und gekonnt nach vorn geht.

Auf der anderen Seite stehen, alles in allem, das lahmende Fußvolk bis auf den letzten Stümper gezählt, keine zweihundert Mann, Spanier, Italiener, Portugiesen, Franzosen, Staatenlose, Entlaufene, Freigelassene, Analphabeten, Stotterer, Schulabbrecher, Perverse sämtlicher Couleur, Stimmenrauscher, Inkontinente, Indiskutable. Gebrochene. Süchtige. Dealer. Ein Volkssturm und letztes Aufgebot. Leute, die an ihre Helme Stützräder montiert haben …

Im Gegensatz zu diesem Haufen, über den Pizarro nur verfügt, befiehlt Atahualpa ein Sondereinsatzkommando in Heeresstärke. Vor den Toren seiner Residenzstadt Cajamarcas warten Hochländer, die sich beweisen wollen. Sie rennen hundert Kilometer in sechs Stunden und dann spielen sie noch drei Stunden faserrissfrei Fußball mit den Köpfen ihrer Feinde, bevor sie die nächste Sportlergeneration zeugen.

Bruno Carrera berichtet in seiner Autobiografie, die erstmals 1538 unter dem Titel „Memoiren eines Dreschflegels“ erschien, wie er Atahualpa schwanken sah.

„Ich glaubte beinah“, schreibt der Genuese in spanischen Diensten, übrigens ein Veteran des Cortés-Raubzugs, „der Inka würde seine Truppen auf Trab bringen. Man hätte uns jeden Tag zermalmen können.“

Jawohl, zermalmen. Wie gesagt, jeden Tag bei angenehmen Temperaturen. Mit Thermalbädern in Ausflugweite.

Ich fasse mich kurz. Atahualpa kämpft nicht, er lässt ein Zimmer füllen mit Schätzen.

 „Der Raum maß zweiundzwanzig Fuß in der Länge und siebzehn in der Breite. Unser Längster erreichte mit ausgestrecktem Arm die Decke nicht.“

Es ist die reine Angabe. Pizarro verlangte lediglich die Aussicht auf einen mit Gold benetzten Fußboden. Da streckte sich der Inka zur Decke und sagte von oben herab:

„Ich mach dir die Bude voll mit erstklassigem Tempelgold. Das ist für mich kleines Tennis.“

Dieser Atahualpa ist nicht ohne. Er hat seinen Bruder Huàscar umlegen lassen. Die kaltschnäuzige Art des Spaniers imponiert ihm. Morgen mehr.