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2023-12-01 11:52:15, Jamal

Gemäßigter Idealist

„Erasmus war der Aufklärer seiner Zeit.“ Fritz Büsser

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Zitiert nach Büsser: „Erasmus war der Mann, ‚der zu wenig Vorurteile und etwas zu viel feinen Geschmack hat, der zu verständig und zu gemäßigt ist..., der als feiner ästhetischer, schwebender Geist keine Konsequenzen zu ziehen weiß, der unbedingter Idealist, zugleich aber ein gemäßigter ist‘ (Johan Huizinga).“ Quelle

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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier.

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„Die Geschichte kann nichts vorhersagen, außer dass große Veränderungen in den menschlichen Beziehungen niemals in der Form eintreten werden, in der sie erwartet wurden.“ Johan Huizinga

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„Die Geschichte aber ist ungerecht gegen die Besiegten. Sie liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat.“  Stefan Zweig über Erasmus von Rotterdam

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„Der Übergang des fünfzehnten in das sechzehnte Jahrhundert ist eine Schicksalsstunde Europas und in ihrer dramatischen Gedrängtheit nur der unseren vergleichbar.“ Stefan Zweig

Rhetorische Raffinesse/Akademischer Schlachtruf

Der ursprünglich katholische, dann reformierte Theologe Fritz Büsser (1923 - 2012) spricht von einer „breiten Mittelsphäre der Reformationszeit“ (Quelle). Erasmus repräsentiert diese Sphäre. Seine Ansichten sind europaweit gefragt.

Ihm hören die Mächtigen zu.

Erasmus tritt in den Arenen seiner Ära als sendungsstarker Intellektueller auf. Latein ist seine Verkehrssprache. Sein Biograf Johan Huizinga erklärt:

„Die Volkssprache hätte alles … zu persönlich … für diesen feinen Geist gemacht. Er brauchte den vagen, fernen, leichten Schleier, den das Lateinische um die Dinge (legt).“

Erasmus verbreitet sich auch in über zweitausend Briefen. Huizinga:

„Die Briefgattung, die sich in dieser Zeit entwickelte, war die Zeitung unserer Zeit, oder vielmehr die literarische Zeitschrift, die sich fast direkt aus der gelehrten Korrespondenz entwickelte. Das Briefeschreiben war … eine Kunst. … Briefe wurden in der Regel in der Absicht geschrieben, sie später für ein breiteres Publikum zu veröffentlichen, oder jedenfalls in dem Wissen, dass der Adressat sie anderen zeigen würde.“  

Mit Erasmus identifiziert die geistige Welt einen akademischen Schlachtruf der Neuzeit:

„Vor allem muss man zu den Quellen selbst eilen, das heißt zu den Griechen und den Alten überhaupt.“

Nur zum Vergnügen setze ich an diese Stelle ein paar von Nietzsches Bemerkungen zum Thema:

„Die Griechen sind interessant und ganz toll wichtig, weil sie eine solche Menge von großen Einzelnen haben. Wie war das möglich? Das muß man studiren (Originalschreibweise).“

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„Die Konsequenz, die man am Gelehrten schätzt, ist den Griechen gegenüber Pedanterie.“   

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„Ich meine, 99 von 100 Philologen sollten keine sein.“  

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„Mit Arbeitsamkeit lässt sich nicht viel erzwingen, wenn der Kopf stumpf ist. Über Homer herfallende Philologen glauben, man könne es erzwingen. Das Alterthum redet mit uns, wann es Lust hat, nicht wann wir.“  

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„Nur auf einem ganz kastrierten (castrirten) und verlogenen Studium des Alterthums erbaut sich unsere Bildung.“ Nietzsche, „Wir Philologen“

Protestantische Perspektive

Die protestantische Perspektive erschöpft sich nicht in der Deklassierung des maßvollen Gelehrten. Das Ätzende changiert zwischen „Satansjünger (und) Feigling, der seine eigentlich reformatorische Gesinnung nicht zu bekennen wagt“. Doch gibt es solche auch, die nur dem Geschmähten zutrauen, der rechte Reformator zu sein. Siehe Fritz Büsser, Quelle.

Den vom evangelischen Eifer geschundenen Erasmus schildert Zweig als „Besiegten“.  

„Die Geschichte … liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat: so hat sie an diesem stillen Diener des Humanen fast verächtlich vorbeigesehen.“

Zweig sieht den von allen Seiten hart angegangenen, gleichsam abgesessenen Vorreiter der Reformation zurückgedrängt in den historischen „Hintergrund“; während sich das Schicksal der Feuerköpfe feurig erfüllt.

„Jan Hus erstickt in der lodernden Flamme, Savonarola am Brandpfahl in Florenz, Miguel Servet* ins Feuer gestoßen von Johannes Calvin, dem Zeloten.“  

*Dazu morgen mehr.

Jedem gönnt die Geschichte eine „tragische Stunde“. Das Momentum der Folter adelt den protestantischen Überschreitungsfuror. Thomas Münzer, John Knox, Thomas Morus, John Fisher und Huldrych Zwingli erscheinen „wehrhaft in ihrer gläubigen Wut, ekstatisch in ihrem Leiden“.

Aus der Ankündigung

Erasmus von Rotterdam, »der erste bewußte Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«, wurde durch seine Kritik an Theologie und Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, scheute der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit die Verantwortung einer Entscheidung. Zweig fasst Triumph und Tragik seines Lebens mit der Sympathie eines Wesensverwandten zusammen: »der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden«.

Zum Autor

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.