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2023-11-29 10:58:33, Jamal

„Wenn es menschlich ist, zu irren, warum sollten wir einen Menschen unglücklich nennen, weil er irrt, wenn er so geboren wurde, so gemacht wurde und im Allgemeinen so bestimmt ist.“ Johan Huizinga

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„Die Nachwelt wird es nicht fassen können, dass wir abermals in solchen dichten Finsternissen leben mussten, nachdem es schon einmal Licht geworden war.“ Sebastian Castellio in „Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens“

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Sehen Sie auch hier. Und hier.

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„Der Umgang mit Büchern führt zum Wahnsinn.“ Erasmus von Rotterdam

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„Was für ein Leben ich habe. Die Allerhöchsten der Welt fürchten sich vor mir; die Allergeringsten der Welt spucken nach mir, scheißen auf mich und pissen mich an.“ Erasmus von Rotterdam an Thomas Morus, nach Sandra Langereis

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„Wer den Kern sucht, muss die Schale brechen.“ Erasmus von Rotterdam

Weltliche Spielräume/Epochale Gestalt

Bleiben wir noch einen Augenblick bei Stefan Zweigs Erasmusiade „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“. Der Autor schildert die epochale Gestalt als geschickten Taktiker. Der als Gerrit Gerritszoon unehelich zur Welt gekommene Erasmus scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. Lieber „erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen“.

Kluge wissen es zu vermeiden, die Konfrontation da anzunehmen, wo sie ihnen angeboten wird.  

„Zu vorsichtig, um jemals ein Held zu werden, erreicht er durch seinen klaren, die Schwächen der Menschheit überlegen berechnenden Geist alles, was er für seine Persönlichkeitsentwicklung benötigt.“

Zuchthaus des Geistes

Er fintiert. Dem Kloster entkommt Erasmus zuerst als Sekretär des Bischofs von Cambrai. Bald benötigt Heinrich von Glymes und Berghes den gebildeten Mönch nicht mehr. Gekonnt drückt sich Erasmus vor der Wiedereingliederung in den klösterlichen Betrieb. Mit einem Stipendium für die Sorbonne verzieht er sich nach Paris. Da gerät er in ein „Zuchthaus des Geistes“, in dem ein impotenter Formalismus als der Weisheit letzter scholastische Schluss gehandelt wird. Der Gepresste entflieht dem „Essigkollegium“ im Tarnmantel einer Krankheit und etabliert sich als Hauslehrer in der französischen Kapitale.

Zweig zeigt auf ein Merkmal des Mittelalters. Für geistige Selbständigkeit gibt es keinen Rahmen in der ständischen, von Abgrenzungen bestimmten Ordnung. Alles und alle stellen sich der Permissivität entgegen.  

„Für den geistigen … Menschen … ist in dieser Weltordnung noch kein Raum vorhanden, denn die Honorare, die späterhin Unabhängigkeit gewähren, sind noch nicht erfunden.“

Bedürftiger Riese/Poetischer Geniebeweis

Erasmus bleibt nur die Wahl zwischen Fürsten- und Gottesdiener. Er strebt nach weichen Lösungen. „Im Schatten der Macht“ überlebt er, ohne je seine Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. Stattdessen hangelt er sich von einer Brotstelle zur nächsten: in einer singulär-vormodern nomadischen Existenz.

In England atmet Erasmus zum ersten Mal die Luft der Freiheit. „Da zählt (niemand) seine Messen und Gebete nach.“ In einem Moment des Friedens blüht die angelsächsische Gesellschaft auf. Der Gelehrte unterrichtet Bill Blount (ca. 1478 - 1534). Der vierte Baron Mountjoy avanciert zum königlichen Berater. Schließlich wirkt er als Patron des bedürftigen Geistesriesen Erasmus.

Der Baron popularisiert sein Idol im Kreis der englischen Elite. High Potentials wie Lordkanzler Thomas Morus bewerben sich um die Freundschaft des Fremden. Ein Gemälde bezeugt eine historische (in Greenwich lokalisierte) Szene an der Schwelle zum 16. Jahrhundert. Das Interieur bezeugt royale Prachtentfaltung. Zu den dargestellten Personen zählt Erasmus. Er beobachtet, wie Morus einem Kind huldvoll eine Papierrolle präsentiert. Bei dem Empfänger handelt es sich um den künftigen Heinrich VIII. Der königliche Knabe wünscht sich von Erasmus einen poetischen Geniebeweis. Der Fürstenflüsterer (siehe Die Erziehung des Christlichen Fürsten) erfüllt die in ihn gesetzte Erwartung im Geiste einer freihändigen Karriereplanung. Für den Lebensentwurf eines freien Autors fehlt die Blaupause.       

“Knowing is not enough.” Bruce Lee

In der Spanne von 1500 bis 1506 pendelt Erasmus zwischen den Niederlanden, Frankreich und England. Einen Ruf der Universität Löwen überhört er.

„Obgleich er nie an der Universität Löwen studierte oder lehrte, weilte er 1517 einige Monate in Löwen und half, das Collegium Trilingue zu gründen.“ Quelle

1506 wird er in Turin zum Doktor der Theologie promoviert. Drei Jahre später erhebt ihn Kaiser Maximilian I. zum Reichsfreiherrn.

Nun erst erscheint der polyglotte Kosmopolit als Erasmus von Rotterdam. Als Nobilitierter erhält er geregelten Zugang zu europäischen Höfen. Erasmus avanciert zum Erzieher des künftigen Kaisers Karl V. Im Kampf gegen die Reformation spielt der Habsburger die führende Rolle. Morgen mehr.     

Aus der Ankündigung

Erasmus von Rotterdam, »der erste bewußte Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«, wurde durch seine Kritik an Theologie und Kirche zum Wegbereiter der Reformation. Doch als Kurfürst Friedrich ihn im Glaubensstreit zwischen Luther und dem Papst um sein Votum bat, scheute der wohl berühmteste und gelehrteste Mensch seiner Zeit die Verantwortung einer Entscheidung. Zweig fasst Triumph und Tragik seines Lebens mit der Sympathie eines Wesensverwandten zusammen: »der freie, der unabhängige Geist, der sich keinem Dogma bindet und für keine Partei entscheiden will, hat nirgends eine Heimstatt auf Erden«.

Zum Autor

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.