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2023-11-17 09:11:35, Jamal

„Schließlich ihre perfekt gezeichneten Lippen, wie die Umrisse eines spitzen Zirkuszelts im Halbdunkel einer Morgendämmerung.“

So beschreibt der Erzähler den Anblick seiner schlafenden Frau.

Im Halbdunkel einer Morgendämmerung

„Jede Vorstellung (einer Migrantin von der ursprünglichen Heimat) … verwandelt sich in eine Beschwörung … und schließlich in Fiktion.“ 

Auf diese Erfahrung bewegte sich Rosika Schwimmer im Januar 1920 als blinde Passagierin zu. Unter einer Plane versteckt, reiste die zur Fahndung ausgeschriebene, weltberühmte Aktivistin in Eiseskälte mit einem Donaudampfer von Budapest nach Wien. Sie floh vor Miklós Horthys Terrorregime. Zuletzt hatte sie Ungarns erste (von Mihály Károlyi angeführte) republikanische Regierung als Botschafterin in der Schweiz repräsentiert.  

„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.“ Walter Benjamin

1921 wurde Schwimmer ausgebürgert.

Der baskische Ich-Erzähler, ein philologisch beschlagener Schriftsteller, zitiert aus einem Artikel, der den Vorgang einer verweigerten Einbürgerung dokumentiert. Schwimmer emigrierte in die Vereinigten Staaten, wo der radikalen Pazifistin 1926 in einem aufsehenerregenden Prozess die amerikanische Staatsbürgerschaft vorenthalten wurde; so dass sie bis zu ihrem Tod 1948 staatenlos blieb.  

„Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals.“ Bertolt Brecht

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Als Emigrantin im US-amerikanischen Exil entwickelt Hannah Arendt (keine zwanzig Jahre nach dem Skandalurteil von 1926) das Institut des „Rechts, Rechte zu haben“. Arendt revolutioniert den Menschenrechtsdiskurs, indem sie eine Gussform für Ansprüche kreiert. Ihre Formel dient Feministinnen, progressiven Juristinnen und Menschenrechtsaktivistinnen bei ihren Manövern zur Ausweitung der Rechte Staatenloser.

Mit der Absicht, einen Roman über Schwimmer zu schreiben, sichtet Kirmen Uribe aka Uri Archivkisten im Rose Main Reading Room der New York Public Library - und zwar als Stipendiat dieser Einrichtung. Ruft ihn jemand an, zieht er sich mit seinem Smartphone in eine antike Holzzelle am Fuß einer Marmortreppe zurück. Ihrer Funktion beraubter, zu Attrappen degradierter Ex-Telefonkabinen bieten hinter Schwingtüren nostalgische Rückzugsräume.

Kirmen Uribe, „Das Vorleben der Delfine“, Roman, übersetzt von Stefan Kutzenberger, Piper, 26.-

Erst spät im Roman erfahren die Leser:innen, dass Uribe von seiner Frau Nora den Kurznamen Uri verpasst bekam. Nora identifiziert sich mit einem mythischen Wesen namens Lamia.  

Nora und Uri stammen aus Ondarroa, einer am Golf von Biskaya, nahe Bilbao gelegenen Gemeinde der Autonomen Gemeinschaft Baskenland. Nach einer baskischen Legende verwandeln sich Männer in Delfine, sobald sie sich in die meerjungfräulichen Lamias verlieben.  

Uri widmet sich auch der polyglotten, 1915 in Budapest geborene, in Chicago aufgewachsenen Edith Wynner, die Schwimmer zunächst (ab 1934) als Sekretärin diente, dann aber zur Mitstreiterin aufstieg, und schließlich im Rang einer Lordsiegelbewahrerin Schwimmers nachweltliche Erscheinung bis zum eigenen Tod im Jahr 1962 modellierte.

Dritte im Bund der progressiven Frauen war die texanische Feministin und Pazifistin Lola Maverick Lloyd (1875 - 1944). Gemeinsam mit Schwimmer gründete sie 1937 das weltföderalistische Pilotprojekt Campaign for World Government.

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Uri beschwört Noras Schönheit. Er beschreibt den Anblick seiner schlafenden Frau: „Schließlich ihre perfekt gezeichneten Lippen, wie die Umrisse eines spitzen Zirkuszelts im Halbdunkel einer Morgendämmerung“.

An anderer Stelle erwähnt er Noras athletischen Rumpf.

Für die Dauer des NY-Aufenthalts besuchen Noras und Uris Kinder Ane und Unai die PS 87 William Sherman School. Nora engagiert sich ehrenamtlich im pädagogischen Bereich.  

Uri plaudert aus dem Nähkästchen seines Familienlebens. Er schildert ein Campingwochenende im letzten Präpandemiejahr in einem Naturpark von New Jersey. Die Ungezwungenheit platzhirschiger Bären limitiert die Ungezwungenheit der Tourist:innen.

Dystopische Vorzeichen

Uri erzählt Binnengeschichten, die selbst das Zeug zu Romanen haben. Noras Urgroßväter stammten aus demselben baskischen Dorf, begegneten sich aber erst als Einwanderer im US-Bundesstaat Idaho. Eine Schussverletzung bildete den Auftakt ihrer Freundschaft. Gemeinsam kehrten sie in die alte Heimat zurück und gründeten da Familien. „Die beiden Söhne des einen heirateten die … Töchter des anderen.“

Ihre Nachkommen fahnden nach Ahnenspuren in der Neuen Welt.

Der Sprachwissenschaftler Uri führt Beispiele für Worte als Gedächtnismarken an. Er exponiert die Ähnlichkeit der baskischen Worte für Erde (lur) und Schnee (elur) als Hinweise darauf, dass es eine (Eis-)Zeit gab, in der Menschen die Erde nur im Schneemantel kannten.

Uri offenbart auch eine phonetische Nähe zwischen den baskischen Wörtern für Vieh und reich. Das baskische Wort für Liebe sei aus einem indogermanischen Lehnwort hervorgegangen.

Uri erwähnt die New York Intellectuals, zu denen Hannah Arendt, Mary McCarthy und Dwight Macdonald zählten.  

The New York intellectuals were the rst group of Jewish writers to come out of the immigrant milieu who did not dene themselves through a relationship, nostalgic or hostile, to memories of Jewishness.” Irving Howe, Quelle

Das zweite NY-Jahr absolvieren die Uribes 2020 unter den dystopischen Vorzeichen der Pandemie. In dieser Spanne bestimmt Noras Perspektive die Darstellung. Sie wendet sich an ihre beste Freundin Maider, so dass sich die Lesenden in einer Zaungastrolle wiederfinden. Nora erzählt vom Abstecher in ein Restaurant, dass Maider aus Suzanne Vegas Hit Tom’s Diner kennt. Das besungene Lokal liegt in Morningside Heights am Broadway. Es lädt zu einer Beschwörung der gemeinsamen Jugend (nicht allein von Nora und Maider, sondern auch von Kirmen/Uri) ein.

Dann erstarrt die Welt im pandemischen Packeis. In einem beinah panischen Augenblick erwägen die Uribes die Rückkehr nach Spanien. Sie entscheiden sich dagegen, während ihr Gastland sich mit einem Cordon Sanitaire vom Rest der Welt isoliert. Ab dem 13. März darf kein in Europa gestartetes Flugzeug in den Vereinigten Staaten landen.

„(Clemens) Brentano erzählt ... von einer Pestepidemie in Kroatien. Ein ungarisches Grenadier- und Husarenregiment war damit beauftragt, den Cordon Sanitaire zu sichern. Selbst Briefe konnten den Pestkordon nicht passieren …“ Hans Magnus Enzensberger

Am nächsten Tag folgt die Schließung von Bars und Restaurants. Die Uribes kommen um den Genuss eines (wegen der Pandemie abgesagten) Konzerts der baskischen Postpunkband Belako.

Uri fühlt sich auf ausgestorbenen Straßen wie der Überlebende einer Atombombenexplosion. Sein Sohn bemalt und beschriftet Papiere aus den väterlichen Recherchebeständen. So kehrt der Roman zu seiner prominentesten Heldin zurück.

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Schwimmer warb bereits zuzeiten des Ersten Weltkriegs in Amerika im großen Stil für den Frieden. Sie wandte sich an Regierungschef und gewann schließlich den Tycoon Henry Ford als wirkungsvollsten Unterstützer ihrer Mission. Die in der Regie von Schwimmer und Ford ausgerichtete Neutral Conference for Continuous Mediation fand im Februar 1916 in Stockholm statt. Die amerikanische Delegation segelte mit Fords Friedensschiff Oscar II über den Atlantik.   

Aus der Ankündigung

Ein großer Roman über eine Vorkämpferin für Emanzipation und Frieden

Die Ungarin Rosika Schwimmer war Anfang des 20. Jahrhunderts weltweit eine der wichtigsten Stimmen im Kampf um gleiche Rechte für Frauen und für den Weltfrieden. In den damals noch so jungen, idealistischen USA glaubte sie, den besten Nährboden für ihre Ideen zu finden. Also wanderte sie dorthin aus. Es gelang ihr fast, sogar den Präsidenten für ihre Ziele zu begeistern, bis der Faschismus in Europo in immer mehr Ländern die Oberhand gewann ... Spätestens mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg ist klar: Rosika steht mit ihren Idealen allein da, wird als Kollaborateurin verfemt und angeklagt. Nach ihrem Tod versucht ihre Sekretärin und langjährige Wegbegleiterin Edyth Wynner ihr ein biografisches Denkmal zu setzen - und scheitert schon an den Unmengen Material, das sie dafür zusammengetragen hat. Das Material füllt in Kisten einen ganzen Raum der New York Public Library und scheint nur darauf zu warten, dass Uri, ein junger Baske, der gerade ein Schreibstipendium der Library bekommen hat, es und seine Heldin endlich dem Vergessen entreißt. Aber Uri ist keine Dame der vorletzten Jahrhundertwende, er ist ein junger Baske, der mit Frau und Kindern im heutigen New York mit noch ganz anderen Dingen zu kämpfen hat als zu vielen verstaubten Kisten ... 

Zum Autor

Kirmen Uribe Urbieta (* 5. Oktober 1970 in Ondarroa, Bizkaia) ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Spaniens und Träger des Premio Nacional de Literatura für seinen Debütroman „Bilbao-New York-Bilbao“. Uribe schreibt seine Werke auf Baskisch. Sie wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Französische und Japanische und erschienen in so prestigreichen Publikationen wie „The New Yorker“ oder „The Paris Review“. 2017 wurde er zum International Writers Program in Iowa eingeladen. 2018-2019 war er Schreibstipendiat des New York Public Library Cullman Center. „Das Vorleben der Delfine“ ist aus dieser Fellowship entstanden. Uribe lebt derzeit in New York City und unterrichtet Creative Writing an der New York University.