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2023-11-08 17:23:44, Jamal

Panzerschrank des Seelenlebens

„Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag. Alle tragische Größe beruht auf einem Bruch in der gesunden Natur, des kannst du gewiss sein.“ Herman Melville

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Gudrun Ensslin wählte für die in Stammheim einsitzenden Genoss:innen Decknamen aus Herman Melvilles „Moby Dick“. Den grüblerischen von Zweifeln angenagten, sich selbst aufreibenden, in einem Treuegefängnis zusätzlich festsitzenden Holger Meins taufte Ensslin Starbuck nach dem Steuermann auf dem Walfänger Pequod. Herman Melville charakterisierte den qualifizierten Seefahrer so: „Starbucks Leib und Starbucks unterjochter Wille gehörten Ahab, solange Ahab die magnetische Kraft seines Geistes auf Starbucks Hirn ausstrahlen ließ; allein ihm war bewusst, dass der Steuermann trotz allem den Kriegszug seines Kapitäns in tiefster Seele verabscheute.“

Meins‘ Ahab hieß Andreas Baader.

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„Das … (sowjetische) Imperium verfügte über alle Zeitreserven Sibiriens. Und damit über Gedankenreserven: ein Panzerschrank des Seelenlebens. In den Bunkern des KGB sammelten sich die akademischen Eliten des Landes.“ Alexander Kluge/ Gerhard Richter, „Dezember“, Suhrkamp

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„Wir sind in den alten Theatern ebenso wenig am Platze wie Jack Dempsey bei einer Rauferei in einer Kneipe voll zur Geltung kommen kann. Da haut ihm einer einfach einen Stuhl über den Kopf + er ist k.o.“ Elisabeth Hauptmann in ihren Notizen zur Vorbereitung von Bertolt Brechts erstem Interview. Das Gespräch mit dem aufstrebenden Dramatiker sollte Frank Warschauer für die Literarische Welt führen. Es kam dann aber anders. Warschauer sagte ab. Für ihn sprang - am 30. Juli 1926 - Bernard Guillemin ein.

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„Nachdem Vasco Núñez de Balboa einige Kaziken, welche sich ihm feindlich entgegenstellten, gezüchtigt und unterworfen hatte, schiffte er sich mit seinen Leuten auf neun Canots (Kanus) ein, um die Küste des großen Golfs, an welchem er sich befand und dem er den Namen St. Miguel beilegte, näher in Augenschein zu nehmen.“ Francisco de Xerez, „Geschichte der Entdeckung und Eroberung Perus“

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„Dem Aussehen nach mochte er etwa fünfundfünfzig Jahre alt sein. Sein über die Brust herabwallender schwarzer Bart zeigte Spuren von Grau, sein Antlitz war tiefbraun und zum größten Teil durch ein rotes Tuch verdeckt. Er ritt ein großes, weißes Dromedar, das ein Zelt auf dem Rücken trug.“ Lew Wallace, von 1881-1885 US-Gesandter im Osmanischen Reich. Als Gouverneur des New-Mexico-Territoriums war er in die Ermittlungen gegen Billy the Kid involviert.

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„Du musst es mir nicht übelnehmen, lieber Bruder, dass ich Dir schon wieder schreibe, - es geschieht nur, um Dir zu sagen, dass das Malen mir ein so ganz besonderes Vergnügen macht.“ Vincent van Gogh

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„Eine jede neue Zeit ist … dunkel und widerwärtig.“ Bertolt Brecht

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„Das Proletariat hat seine Rolle als unfehlbares Subjekt der Geschichte eingebüßt, obwohl die Kritische Theorie weiterhin um seine Befreiung kämpft.“ Leszek Kołakowski

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„In jedem Augenblick tauchen wir in ein Feld undifferenzierter Materie ein, aus der unsere Sinne Informationsfetzen sammeln.“ Rick Rubin

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„Halte Ausschau nach dem, was niemand außer dir bemerkt.“  Rick Rubin

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„Natürlich ist ein Selbst viel umfassender als der innere Erzähler.“ Siri Hustvedt

Der Traum von der Universallösung

Karin Mölling hat mir von einem Element in unserem Erbgut erzählt. Das ist ein über fünf Millionen Jahre altes Virus. Das ist übergelaufen zu den Vorfahren von uns, als wir noch nicht Menschen waren …

We have information which are older than humanity. All of the body's reactions have genetic roots that goes back billions of years. As soon as we leave the thermoneutral zone, everything revolves around restoring homeostasis. Almost all genetic variants have their origins in evolutionary events long before our journey starts. And this is where epigenetics begins. Frei nach David A. Sinclair

… Es sitzt in uns und verteidigt uns immer noch wütend und träumend gegen Gefahren von Bakterien und Viren von vor fünf Millionen Jahren. Die Gegner unserer Vorfahren, die hier abgewehrt werden, gibt es längst nicht mehr. Wenn wir mit diesem Urvirus und Überläufer, der wie ein Hugenotte nach Preußen in unser Erbgut überlief, sprechen könnten, hätten wir vermutlich Zugang zu einem Universalimpfstoff.“ Alexander Kluge

Da ist sie, die Sehnsucht nach der Universallösung, die sich an den Universallösungen der Natur messen lassen kann. Dazu bald mehr.

Emotionale Innenausstattung

Im apokalyptischen Jetzt der Gleichzeitigkeit von Ereignis & Information unterhalten sich die Publizisten Alexander Kluge und Stefan Aust über alles Mögliche. Sie beanspruchen für sich „Sachlichkeit und Einfühlung“.

Stefan Aust, Alexander Kluge, „Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit, Gespräche und Projekte“, 335 Seiten, Piper, 24,-

„Nachrichten in Echtzeit sind eine Herausforderung an unsere emotionale Innenausstattung (und) unsere Urteilsfähigkeit“, weiß Alexander Kluge.

Sich auf Stefan Austs Geburtsdatum beziehend, fragt Kluge in einem Gespräch aus dem Jahr 2001: „Gehört das zum Sternzeichen Löwe?“ Für Aust ist die Sternzeichenkabbalistik Hokuspokus. Er erklärt: „Ein Mensch aus Stade macht das nicht.“  

Der Satz bezieht sich auf Austs Weigerung an APO-Demonstrationen teilzunehmen. So ähnlich äußerte sich Adorno, der den „Embonpoint älterer Herrschaften“ zur Begründung seiner Straßenprotest-Abstinenz heranzog.

Politische Topografie

Im Februar 1962 erlebte Aust bei der großen Sturmflut auf dem von seinen Eltern bewirtschafteten Stader Hof Land unter. Im selben Jahr ging die Spiegel Affäre über die Bühne. Ein Atomkrieg rückte in greifbare Nähe. Den Schüler Stefan unterrichteten ehemalige Wehrmachtsoffiziere, darunter der Ritterkreuzträger Werner Ebeling, der 1956 bei der Bundeswehr einstieg und als General in den Ruhestand gehen sollte. Mit dem Hochdekorierten verband Stefan eine Ohrfeige, die der Neunjährige dem Lehrer (ohne Retourkutsche) verpasste. Die Schelle blieb Jahrzehnte ein Thema zwischen Aust und Ebeling, der noch mit neunzig den Kontakt hielt. 

Strauß, Filbinger, Meinhof, Schleyer/Stammheim, Mogadischu, Brokdorf, das Brandenburger Tor/Die Spiegel-Affäre, das Starfighter-Debakel, das Dutschke-Attentat, die Anti-Springer-Proteste, die erste Ölkrise, der Deutsche Herbst, die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden/Die Außerparlamentarische Opposition, die Pille, der Autorenfilm, die Gründung der Grünen, die Revolution von 1989, das Einkassieren und Ausweiden der DDR - Die beiden Autoren umkreisen die Hauptmarken der alten Bundesrepublik und ihrer Nachfolgerin, der Berliner Republik. Sie zeichnen Linien der politischen Topografien nach. 

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Wenn in Deutschland zwei Menschen eine spannende Bilanz ziehen können, dann sind das Stefan Aust und Alexander Kluge. Der Journalist und der Filmemacher kennen sich seit über 40 Jahren, seit der Zusammenarbeit am Film „Der Kandidat“. Von da an entstanden und entstehen immer wieder neue Unternehmungen, anregende Gespräche und tiefgründige Analysen. In ihrem neuesten gemeinsamen Projekt gewähren Aust und Kluge Einblick in ihre Werkstätten. Von der Vergangenheit bis in die Zukunft, von bewältigten Krisen zu aktuellen Herausforderungen wird hier ein Debattenbeitrag geboten, der zum Denken anregt.

Zu den Autoren

Stefan Aust, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Er begann bei der Zeitschrift konkret und arbeitete dann viele Jahre bei Panorama, wo sein Bericht über ein verschwiegenes Todesurteil, das der Marinerichter Filbinger im Zweiten Weltkrieg gefällt hatte, zu dessen Rücktritt als Ministerpräsident führte. Er gründete Spiegel TV und war 12 Jahre lang Chefredakteur des Spiegel, später Mitinhaber des Fernsehsenders N24 und Herausgeber der Welt. Er ist Autor zahlreicher Dokumentationen und Bücher. Sein Buch Der Baader-Meinhof-Komplex, erstmals 1985 erschienen, gilt als „Klassiker“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).

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Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: „Mein Hauptwerk sind meine Bücher.“ Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.