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2023-10-07 09:55:13, Jamal

„Die Ein- und Ausschlusslinien der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ (Samuel Salzborn) verlieren in der Bundesrepublik nicht ihre Geltung. Die NS-Ästhetik geht unerkannt als Unschuld vom Land und langweilt die künftigen Achtundsechziger:innen mit ihrem Kitsch. Niemand käme auf die Idee, den Heimatfilm für etwas anderes als eine Reaktion auf Verluste zu halten. In Wahrheit tarnt sich der Faschismus im Heimatfilm mit Harmlosigkeitsbehauptungen. Vordergründig fehlt der NS-Bezug, wie Samuel Salzborn in seiner Analyse „Kollektive Unschuld“ feststellt. Sieht man dahinter, sieht man alles. „Die völkische Heimatromantik“ behält ihren dominanten Genrecharakter. Die Idealisierungen bieten sich zu „kollektiven Identifizierungen“ an. Sie relativieren nicht nur den Faschismus, sie transformieren ihn sogar. Sie schildern ein Deutschland ohne Holocaust. Sie sind Paradeinstrumente der Erinnerungsabwehr und funktionieren als revisionistische Bollwerke. Einer Verdrängungsgemeinschaft gewähren sie Deutungsangebote. Sie tragen dazu bei, dass sich Narrative etablieren können, die der deutschen Schuld widersprechen. Siehe hierzu: Samuel Salzborn, „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“, Hentrich & Hentrich, 130 Seiten, 15,- 

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Thekenprahlerei

„Ich mach’ im Moment vielleicht nicht viel her, jetzt, wo ich so an diesem Scheißtresen hocke. Aber ich sage dir: Was du hier siehst, ist nicht das, was ich bin.“

Die Thekenprahlerei offenbart und verbirgt eine Sehnsucht nach wertschätzender Aufmerksamkeit. Das haltlose Begehren identifiziert einen Feierabendtrinker, der dem Komment der Vornamenwelt mit einer unbürgerlichen Vorstellung genügt. In seiner Stammgastrolle ist er ‚der Axel‘. Beim Bier sind alle per du. Ahnungslos trifft der Aufschneider einen biografischen Nagel auf den Kopf. Wolfgang Wissners Hauptprotagonist ließe sich mit keinem Wort besser charakterisieren als mit Axels Selbstanzeige.

Wolfgang Wissler, „Straffers Nacht“, Roman, Pendragon Verlag, 22,-

Auf den ersten Blick wirkt Erich Straffer wie einer, der die Kurve im Wirtschaftswunderwestdeutschland nicht gekriegt hat; wie ein Zurückgebliebener, dem die Kraft zum Neustart nach den Spielregeln der Adenauer-Ära fehlte, und der nun, Anfang der 1960er Jahre, als Randgruppenfigur vor sich hin existiert.

Straffer überlebt eine massenmörderische Vergangenheit als Nachtwächter. Der ehemalige SS-General schlurft dienstlich durch leere Montagehallen und über Fabrikhöfe. So ausgelaugt wie zuverlässig erfüllt er seine Aufgaben in einem zersetzenden Lebensrhythmus. Mitunter gleitet seine Wahrnehmung ins Somnambul-Halluzinierende ab. Dann erscheinen ihm Maschinen wie schlafende „Stahl-Dinosaurier“.  

Straffer räsoniert und memoriert. Einst traf er Hitler persönlich. Solange das Dritte Reich währte, verkörperte er eine Persönlichkeit ersten Ranges. Im Augenblick der Ereignisse ist er ein von seiner Frau verachteter Niemand. Die Unverfrorenheit, mit der andere Granden des Faschismus in der Bundesrepublik Karriere machen, entfesselt den Zynismus des Verlierers. Sein Schöpfer erwähnt den zu Hans-Joachim Kulenkampffs Hochzeiten populären TV-Produzenten Martin Jente (1909 - 1996). Jente wirkte als SS-Mann im ‚Führerhauptquartier‘. Wissler erinnert an Adenauers unbefangenen Umgang mit NS-Administratoren. Der Autor erwähnt den Nazi-Juristen Hans Globke (1898 - 1973), der nach dem Ende des Dritten Reichs als Chef des Bundeskanzleramts (aka graue Eminenz des ersten Nachkriegskanzlers) weiter Macht ausübte.  

Kollektive Amnesie

Wissler beweist Geschick in der Kombination von Fiktion und Fakten. Mich erinnert sein Kolportagestil an Fortsetzungsromane in Illustrierten der 1970er Jahre. Anschaulich archäologisch schildert er faschistische Kontinuitäten in einer teilweise gedächtnislosen Gesellschaft. Der Mangel an Unrechtsbewusstsein entsprach einer Epochensignatur. Nachgeborene können sich überhaupt nicht vorstellen, wie wehleidig und eindimensional die Wiederbewaffneten auf die Folgen ihrer eigenen Handlungen reagierten. Eine staatliche Kultur der Einsicht entstand erst später. Wissler zieht die in den 1960er Jahren vorherrschende Larmoyanz aus den Falten der Geschichte.   

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Straffer hält Verbindung zu den alten Kameraden. Er unternimmt einen Tagesausflug, um einen ehemaligen KZ-Arzt, den das Gewissen schlägt, zu größerer Zurückhaltung bei der tätigen Reue zu ermahnen. Seine Ferien verbringt er in einer Pension, dessen Wirt, ein ehemaliger Untergebener, der als besonders freudiger Schlächter auffällig wurde, in der Rolle eines jovialen Herbergsvaters reüssiert. Schließlich holt Straffer Informationen bei einem in der Bundesrepublik groß herausgekommenen Nazi-Fabrikanten ein, der die Fäden des SS-Netzwerks in den Händen hält.

Wissler streift eine Groteske. Im konkreten Nachgang des Zweiten Weltkriegs brachten die amerikanischen Sieger:innen rund fünfzig nationalsozialistische Premiumakteure im Palasthotel des luxemburgischen Kurorts Bad Mondorf unter. Die Geschichte von Camp Ashcan, so der alliierte Codename, wurde unter anderem im „Spiegel“ erzählt. In einem Interview verweist Wissler auf die Quelle: Philipp Schnee, im „Spiegel“ am 28.10. 2009. Interniert waren u.a. Hermann Göring, Karl Dönitz, Lutz Schwerin von Krosigk, Wilhelm Frick und Alfred Rosenberg. Philipp Schnee nennt die Lage vor Ort ein „bizarres Kammerspiel“.   

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Der (für ihn) tristen Gegenwart entflieht Straffer ins Kino. Da staunt er über Romy Schneiders Metamorphose von der Kaiserin des Heimatfilms zum Weltstar.

Die Wiederbewaffnung, die Verweigerung der Kriegsschuldannahme, das Zurückdrängen der Frauen aus der Erwerbsöffentlichkeit und ein staatlicher Antikommunismus bilden die Hauptantriebe einer weitreichenden Regression, die nicht zuletzt von Bonn ausgeht und sich in den - etwa in Bad Fuschl - gedrehten Heimatfilmen spiegelt.

Das Salzkammergutidyll am Fuschlsee liefert den Kino-Illusionist:innen eine Ersatzkulisse für die Originalschauplätze am Starnberger See. Schloss Fuschl ersetzt Schloss Possenhofen. Die ältesten Bürger:innen erinnerten einen Stop-over der echten Sissi 1867 gemeinsam mit Kaiser Franz-Joseph vor Ort. Auf dem Weg zur Kur in der kaiserlichen Wahlheimat Ischl hatte sich das Paar die Zeit genommen, Napoleon III. am Fuschlsee zu treffen.

Sissi-Regisseur Ernst Marischka beschäftigte die Bildhauerin und Kostümschneiderin Gerda Gottstein. Die Ausstattungsgöttin mit dem Künstlerinnennamen Gerdago musste Marischkas Kameramann Bruno Mondi ertragen. Mondi diente Veit Harlan bei den Dreharbeiten zu „Jud Süß“. 

„Die Ein- und Ausschlusslinien der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ (Samuel Salzborn) verlieren in der Bundesrepublik nicht ihre Geltung. Die NS-Ästhetik geht unerkannt als Unschuld vom Land und langweilt die künftigen Achtundsechziger:innen mit ihrem Kitsch. Niemand käme auf die Idee, den Heimatfilm für etwas anderes als eine Reaktion auf Verluste zu halten. In Wahrheit tarnt sich der Faschismus im Heimatfilm mit Harmlosigkeitsbehauptungen. Vordergründig fehlt der NS-Bezug, wie Samuel Salzborn in seiner Analyse „Kollektive Unschuld“ feststellt. Sieht man dahinter, sieht man alles. „Die völkische Heimatromantik“ behält ihren dominanten Genrecharakter. Die Idealisierungen bieten sich zu „kollektiven Identifizierungen“ an. Sie relativieren nicht nur den Faschismus, sie transformieren ihn sogar. Sie schildern ein Deutschland ohne Holocaust. Sie sind Paradeinstrumente der Erinnerungsabwehr und funktionieren als revisionistische Bollwerke. Einer Verdrängungsgemeinschaft gewähren sie Deutungsangebote. Sie tragen dazu bei, dass sich Narrative etablieren können, die der deutschen Schuld widersprechen. Siehe hierzu: Samuel Salzborn, „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“, Hentrich & Hentrich, 130 Seiten, 15,- 

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Straffer sieht Romy Schneider in der Kafka-Verfilmung „Der Prozess“ - einem Werk von Orson Welles, übrigens mit Anthony Perkins in der Rolle des Josef K. - und in „Der Kampf auf der Insel“, mit Jean-Louis Trintignant und Jean-Pierre Melville.

Er begegnet einem Schauspieler, der an einer frühen Karl-May-Adaption beteiligt war. Regie führte Harald Reinl, der Leni Riefenstahl bei der Entstehung von Tiefland assistiert hatte.

„Dieser Film entstand zwischen 1940 und 1944 mit aus KZs zwangsrekrutierten Sinti und Roma, die nach Beendigung des Films ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden.“ Quelle

In den 1950er Jahren verherrlichte Reinl in Solange du lebst die Legion Condor. Das große Publikum kannte ihn als Meister der Straßenfeger nach Vorlagen von Edgar Wallace bis Jerry Cotton. 

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Straffers nächtliche Kontrollgangeinsamkeit endet. Straffer erhält den Auftrag einen Kollegen aus Tel Aviv einzuarbeiten. Straffer begreift rasch, dass sich Reuben Horovitz von ihm keinen Bären der Harmlosigkeit aufbinden lässt. Horovitz ist nach Deutschland gekommen, um mit dem Mörder seines Onkels Gideon abzurechnen. Er sucht den ehemaligen Kommandeur des Auschwitz-Außenlagers Jawischowitz. Straffer verspricht, dem Rächer behilflich zu sein. Hofft er, so seinem Schicksal entgehen zu können?

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Auch Hitlers im Jetzt der Ereignisse bereits verstorbene Schwester spukt in Wisslers Roman. Paula Hitler führte bis 1945 ein Schattendasein in der Regie ihres Bruders. Nach dem Krieg avancierte sie, so Wissler, zum Objekt der Begierde im Spektrum der ‚Führerverehrung‘. Hitler-Aficionados legten es nicht nur auf Briefverkehr an.

Aus der Ankündigung

In der Nacht sind die Schatten der Vergangenheit unsichtbar

Unter Hitler war Erich Straffer ein skrupelloser SS-General. 20 Jahre später streift er als Nachtwächter durch finstere Fabrikhallen. Wirtschaftswunder und Deutschlands Wiederaufstieg sind ihm suspekt. Viele alte Nazis machen in der jungen Bundesrepublik Karriere, haben wichtige Posten. Straffer nicht, er wartet auf seine Bestrafung. Dass sie nicht kommt, irritiert und zerrüttet ihn zugleich. Nach all den einsamen Nächten wird ein junger Mann aus Tel Aviv sein neuer Kollege. Ein Jude, der in Deutschland den Mörder seines Onkels sucht. Straffer erkennt: Das kann kein Zufall sein. Ist nun die Zeit der Abrechnung gekommen?

Zum Autor

Wolfgang Wissler, 1960 in Basel geboren und im badischen Lörrach aufgewachsen, arbeitet als Politikredakteur bei einer Tageszeitung. Außerdem schreibt er Bücher. 2021 erschien »Kolumbus, der entsorgte Entdecker«. Wolfgang Wissler lebt in Konstanz.