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2023-10-04 09:31:01, Jamal

„(Der ganz normale Wachzustand) ist aus spiritueller Sicht der am wenigstens wache Zustand überhaupt.“ Christopher Wallis

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„Die meisten Menschen bewegen sich in ihrem Wachleben wie in einem Traum.“ Christopher Wallis

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„Begierde zu wecken … (ist) die stärkste Form der Einflussnahme.“ Susie Yang

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„Ivy betrachtete (Andrea) … Der empörte Gesichtsausdruck sollte weibliche Loyalität ausdrücken, der schwelende Zorn schien in allen alleinstehenden Frauen über dreißig zu glimmen. Weder … noch der Zorn hatten etwas mit Ivy zu tun; (der Zorn) war einfach eine Art Sammellinse, die Andreas Vorstellungen vom Leben brach.“ Susie Yang

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„Wahre Freiheit definiert sich über harte Arbeit und Entschlossenheit.“ Ai Weiwei

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„Wagemut wurde belohnt, Haftstrafen waren ein Berufsrisiko. Bildung war keine Voraussetzung für den Aufstieg.“ Desmond Shum über die Rahmenbedingungen des ersten chinesischen Wirtschaftswunders

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„Was uns im Westen besonders beeindruckt hat, ist diese kühne Art und Weise, die Sujets zu beschneiden: … (Die Japaner) haben uns eine andere Art der Bildkomposition gelehrt.“ Claude Monet

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Susie Yang erzählt eine paradoxe Geschichte. Während in der Volksrepublik China der Wohlstand ausbricht, und Leute, die sich eben noch über ein Fahrrad zu freuen in der Lage waren, Kataloge nach Luxusartikel durchforsten, die sie für einen Augenblick nur an die Spitze des Konsumwettbewerbs setzen, konkurrieren chinesische US-Migrant:innen mit anderen Minderheiten um Nebenstellen und Randpositionen des Mainstream-Flows. Sie isolieren sich in ethnisch definierten Gemeinschaften. Für Susie Yangs Heldin Ivy geht es stets darum, dem Community-Knast und seinen Ideologien zu entkommen. Ivy fühlt sich von Kindesbeinen an ganz und gar als Amerikanerin.

 

Herkunftshorizont

Ivy wächst in Boston und New Jersey auf. Sie erlebt eine Reihe von Liebespleiten im Dunstkreis reicher weißer Kandidaten. Obsessiv erscheint eine Fixierung auf den Irisch-Katholischen-Kennedy-Typus. Auf einer Party studiert sie den Einrichtungsstil der Gastgeberin. Sie registriert das Preisschild eines unscheinbaren Holzstuhls: 3950 Dollar.

Susie Yang, „Die kleinen Lügen der Ivy Lin“, Roman, aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp, Penguin Verlag, 18,- 

Den seit Schulzeiten verehrten Gideon Speyer begleitet Ivy zu einem Spiel der „Boston Celtics“. Erst an dieser Stelle (S. 151) gibt es den ersten unverrückbaren Hinweis auf die Handlungszeitpunkt. Als Stars am Start sind die Big Three der Heimspielmannschaft. Paul Pierce, Kevin Garnett und Ray Allen agieren (zwischen 2007 und 2012) unter einem Label, das als Hommage an die ersten Big Three (Larry Bird, Robert Parish, Kevin McHale) zu einem Boston-Celtics-Markenzeichen wurde. Gideon schwärmt der uninformierten und desinteressierten Ivy vom NBA-Meisterschaftssieg seiner Favoriten über die „Los Angeles Lakers“ 2008 vor.

„Sie (liebt) es Gideons Stimme zu hören.“

Die sechsundzwanzigjährige Lehrerin Ivy erlebt den vor einem gigantischen Erwartungshorizont ausgetragenen Wettkampf am Donnerstag, den 15.01.2009. Die Boston Celtics gewinnen gegen die Brooklyn Nets 118:86. 

Ivy hofft auf eine Umarmung im Zuge der Siegeuphorie. Gideon bleibt verhalten. Immerhin bequemt er sich zu einer Einladung zu einem Skiwochenende.

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Die Beziehung nimmt gemächlich Fahrt auf. Wie weit Ivy und Gideon sozial auseinanderliegen, zeigt sich in einer Szene, die wie indirekte Beleuchtung funktioniert. Ivy will sich verbessern und deshalb ein Jurastudium anfangen. Sie muss den Ehrgeiz mit ihrem Job koordinieren. Das überrascht Gideon.

„Offenbar war er davon ausgegangen, dass sie über die Mittel verfügte, zu tun, was immer sie wollte … als hätte sie die ganze Zeit nicht aus Notwendigkeit gearbeitet, sondern allein zu dem Zweck, sich zu beschäftigen.“  

Gideons dynastisch-komfortablen Verhältnisse perforieren Ivys Panzerung. In der Luxussphäre eines - nach amerikanischen Maßstäben - antiken Strandhauses trifft sie ihren ersten Liebhaber wieder. Roux verdankt seine Zugangsberechtigung einer Liaison mit Gideons Schwester Sylvia.

„War es der klischeehafte Reiz, einen Mann von der falschen Seite der sozioökonomischen Grenze zu daten, der Sylvias Hormone befeuerte?“

Der extrem prekär aufgewachsene Sohn rumänischer Einwanderer spiegelt die Aufsteigerin. Er deflorierte eine Unbehütete. 

„Ivy hatte ihre Jungfräulichkeit mit vierzehn verloren … Sex mit vierzehn war verwerflich.“

 

Erwartungen hängen wie Ausdünstungen in den Räumen. Roux unterläuft die Standards. Stoisch verweigert er jedes Entgegenkommen. „Hölzern“ pfeift er auf Distinktion und Diskretion.   

„Seine Verschlossenheit (kommt) ihr vor wie ihre eigene Rache.“

Gekonnt ahmt Ivy die gestelzte Art ihres Verlobten nach. Mich erinnert das an eine Erzählung von Hilary Mantel. Siehe „Sprechen lernen“.  

Herkunftshorizont

Die prekär sozialisierte Erzählerin kommt auf eine gutbürgerliche Schule. Der Unterricht flankiert eine soziale Perspektive, die ihren Herkunftshorizont weit übersteigt. Ihre Ahninnen waren in den Mühlen des Manchesterkapitalismus pulverisierte Arbeiterinnen von Kindesbeinen an gewesen. Die Erzählerin erkundet bürgerliche Distinktionsmarken. Sprachlich antizipiert sie ihren künftigen Status. Um sich die Ermächtigungen und Aneignungen klarzumachen, weicht sie auf das Feld der Dialekte aus. Sie unterscheidet südliche von nördlichen Aussprachen des Englischen. Sie weiß, dass niemand die Spieldose der Sprachmelodie seiner Kindheit hinter etwas Aufgesetztem ganz verschwinden lassen kann. Und so wird sie auch als vollendete Aufsteigerin an die Parameter der herkunftsfamiliären Armut gebunden bleiben.  

Aus der Ankündigung

Ivy Lin ist eine ausgesprochen talentierte Lügnerin. Doch das würde niemals jemand erahnen. Ihre Lügen erlauben es Ivy, ihre ungeliebte Vergangenheit für immer hinter sich zu lassen und in ein Leben zu schlüpfen, das reicher und auch viel schöner als ihr eigenes ist. Niemand verkörpert diese Zukunft, nach der sie sich so sehr verzehrt, besser als Gideon Speyer. Und so arbeitet Ivy mit jeder Lüge darauf hin, endlich Gideons Ehefrau zu werden. Bis plötzlich ein Mann aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr gesamtes Leben infrage stellt. Im Alleingang könnte er Ivys Lügengerüst ins Schwanken bringen. Dennoch kann sich Ivy ihm nicht entziehen.

Zur Autorin

Susie Yang wurde in China geboren und kam als Kind in die Vereinigten Staaten. Nach ihrer Promotion im Bereich Pharmazie gründete sie in San Francisco ein erfolgreiches Tech-Startup. Sie hat kreatives Schreiben in Tin House und Sackett Street studiert. Ihr Debüt Die kleinen Lügen der Ivy Lin schaffte es auf Anhieb auf die New York Times-Bestsellerliste.