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2023-09-26 11:40:21, Jamal

„Sólo lo que sobrevive el caos perdura y qué bien que así sea. - Nur was das Chaos überlebt, hat Bestand, und das ist auch gut so.“ Bárbara Hernández Huerta, Quelle

„Manche Leute haben in der genetischen Lotterie das große Los gezogen.“

Das erklärt David A. Sinclair. Gleichzeitig stellt der Biologe fest: „Das Epigenom ist formbar.“ Auf Instagram entdeckte ich gestern ein Beispiel für eine epigenetische Adaption. Die Eiswasserschwimmerin (The Ice Mermaid) Bárbara Hernández Huerta erklärt:

„Wir lernen, die verschiedenen Grade der Unterkühlung zu erkennen und arbeiten als Team an einer Erholung - immer schrittweise, NIEMALS mit warmem Wasser - die noch wichtiger ist als das Schwimmen selbst … Ich genieße und fließe in den Widrigkeiten des Wassers und der Strömung, des Schnees und des Windes, weil ich mich dadurch zutiefst LEBENDIG fühle.“ Quelle

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„Später am Abend hockten die Kerle an der Bar wie sinnliche Hasen und machten Männchen.“ Ulrike Draesner

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„Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (..) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewusst in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.“ Victor Klemperer

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„Manche reisen, um eine Sprache zu finden, andere, um zu verstummen.“ Michael Roes über Rimbaud in „Melancholie des Reisens“

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„Eine kleine Stille kam zwischen uns, so präzise wie ein an der Wand hängendes Bild.“ Jean Stafford

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„Die Räume zwischen den Gedächtnisbildern können nur vermutet werden.“ Britta Boerdner

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„Wir arbeiten im Dunkeln - wir tun, was wir können - wir geben, was wir haben. Unser Zweifel ist unsere Leidenschaft, und die Leidenschaft ist unsere Aufgabe. Der Rest ist der Wahnsinn der Kunst.“ Henry James

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Es gibt keine arabische Übersetzung von Naked Lunch, wie Michael Roes bemerkt. An die „verlebten“ Amerikaner Burroughs & Ginsberg in Tanger erinnern Schwarzweißaufnahmen in einem Café unter Überschreibungen wie in einem Café am Berliner Kollwitzplatz. „Die Nerds … tragen dieselben Brillen, Ohrwärmer und abgetragenen Sakkos.“

Leere Bühne

Fast elf Jahre verbringt Rimbaud in „der Winterhauptstadt“ des Jemens. Der Expatriierte verflucht Aden als „scheußlichen Felsen“. Er beklagt die Hitze und entbehrt Gras und „gutes Wasser“. Sein Überleben hängt von lauter technischen Vorgängen ab, wie etwa der Destillation von Meerwasser. Er lässt sich eine Fachbibliothek mit Abhandlungen über Schiffbau und artesische Brunnen“ schicken.

Auf dem Kratergrund

Er versachlicht und entschlackt sich. Den Künstler Rimbaud schickt er zum Teufel, ohne ihn loszuwerden. Daran erinnert Michael Roes in Aufzeichnungen aus dem Jahr 2009. Der Autor sieht sich in Aden um.

Zitate aus Michael Roes, „Melancholie des Reisens“

Das älteste Quartier füllt einen Vulkankrater aus.

„Man sieht und berührt nichts als Lava und Sand.“

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Salz und Perlen

Zu Beginn unserer Zeitrechnung erntete man im Schärenverbund an der Mündung des Yuejiang Salz und Perlen. Ein chinesisches Tortuga bot sich Briganten als An- und Auslauffläche an. Dann kamen schon die ersten Migrant:innen, die ein Leben unter mongolischer Herrschaft vermeiden wollten. In der Neuzeit machten Portugiesen Hongkong zu einem Außenposten ihres Imperiums, bis sie von den Briten verdrängt wurden. Im 19. Jahrhundert stellte sich Hongkong als verträumtes Fischer:innennest dar. Das alles war lange Vergangenheit, als eine Zäsur bevorstand, die alle älteren Wechselfälle in den Schatten stellte. Hongkong war 157 Jahre britische Kronkolonie - 1997 fiel Hongkong zurück an China. Deng Xiaopings Versprechen „Ein Land, zwei Systeme“ war sofort nichts mehr wert. Die Wettbewerbshochburg Hongkong sollte zwar ihre Totalisatoren nicht verlieren, aber trotzdem nach Pekinger Prinzipien funktionieren.  

Nicht ohne meine Oma/In den 1980er Jahren © Jamal Tuschick

Verdeckte Marinemission/Beweglicher Koloss

„Erst begreifen. Dann angreifen.“

Noch so ein typischer Steinbrecher. Der alte Anton dröhnt schon den ganzen Vormittag vor sich hin. Ach, wie sehr es ihm gefällt, dass sein Enkel (und einziger männlicher Nachkomme) über hybride Kriegsführung im chinesischen Stil Bescheid weiß. Anton imaginiert tausend harmlos beflaggte, morbide auf einer spiegelglatten See vor sich hin dümpelnde Dschunken. Auf ein Zeichen hin (der hohe Bogen eines brennenden Pfeils) legen die verlumpten Besatzungen die Schiffsgeschütze frei. So bebildert er eine ozeanische Schote, die Navin beim Frühstück zum Besten gab. China nutze seine Fischereiflotte für verdeckte Marinemissionen. Fragt man Anton, gibt es Ziviles nur als Tarnung. Die klandestine Militarisierung des Pazifiks läutet eine neue Ära ein. Und auch wieder nicht. Imperialismus mit chinesischem Antlitz zählt schließlich zu den ältesten Hüten.

Es gibt nichts Neues. Aber es ist doch schön, dass sich der Enkel für die richtigen Dinge interessiert. Ein Wunder, bedenkt man die lausigen Zeiten und die ausgeflippte Mutter sowie den siffigen Schnorrer Raimund, den Doris auf Kosten ihres Vaters durchbringt.  

Anton nimmt die Schmarotzerei seiner Sorgentochter wie das Wetter. Unter seiner Chassis gähnt ein großer Spielraum, wenn auch nicht unbedingt für Mitgefühl. Anton hat schon so viele kommen und gehen sehen. Und dann kommt es doch anders als man denkt. Zudem kann niemand im Voraus wissen, wozu ein schlechter Mann noch gut sein kann.

In der letzten Zeit verschleiert sich Raimunds Indolenz mit einem beinah bürgerlichen Auftritt. Er trägt die dezent weitergereichten  Kurzarmflanellhemden von Antons reichstem Schwiegersohn bis zur Fadenscheinigkeit auf. Tayfun verkörpert die kardiologische Koryphäe an der Spitze der Schwarzwaldklinik in echt. Zu Veronikas Gatten und seiner trügerischen Großzügigkeit an anderer Stelle mehr.

Frieden ist stets nur ein Zwischenspiel. Der Staat braucht Soldaten, weiß Anton. Er war ein Freak, bevor er Soldat wurde, um nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft umgehend zu den Standards grandioser Individualität zurückzukehren. Antons Erscheinung suggeriert großbürgerlich-herrenreiterliche Gutsherrlichkeit. Wer käme auf die Idee, dass dieser schneeweiß ergraute Langhaarige in seinen butterweichen Reitstiefeln kein studierter Grandseigneur ist, sondern ein Elektriker mit fünfjähriger Volksschulbildung.

Die Werkzeugkammertür steht auf. Nach Antons Ordnungssinn (und einer Anweisung) soll sie stets verschlossen sein. Er will nach dem Rechten sehen und tappt beim Übergang von gleisender Hitze zu kühler Schwärze erst mal im Dunkeln. In einem Adaptionsvorgang weiten sich die Pupillen. Anton bemerkt ein unerwartetes Geschehen an der Werkbank.

Pietistischer Haarknoten

Getrieben von ratloser Verlegenheit flüchtet Antons in flagranti mit seinem Enkel und Thronfolger ertappte Lieblingstochter Veronika in die Küche ihrer Eltern. Sie klebt am Schoss der Familie, egal wie sie sich dreht und wendet. Im verwaisten Fernseher schubsen sich fette Ringer. Da paart sich Schwerfälligkeit mit Beweglichkeit. Zwanghaft analysiert die sportlichste der sieben Steinbrecher-Schwestern den Gegensatz. Sie reagiert körperlich auf die athletischen Leistungen anderer. Sofort richtet sie sich auf. Sie macht sich gerade und nimmt gegenüber dem Bildschirm Haltung an.  

Betty und Anton lassen den Küchenfernseher auch in ihrer Abwesenheit von morgens bis abends laufen. Kein Mensch weiß wieso.  

Veronika registriert ausgeflockten Jogurt in einer Schale auf der Anrichte. Geronnenes Eiweiß. Die Denaturierung löst einen überraschend starken Widerwillen aus. Wie schon als Kind wehrt sich die promovierte Archäologin gegen den Ekel mit halbgesungenen Silbenkombinationen, die keinen Sinn ergeben. Der Tonspur folgen Erinnerungen an das Milchhäuschen in Schöneberg, und an die großen Blechkannen, die der Milchmann im Messerschmitt Kabinenroller ausfuhr.  

Homogenisierte Milch war Teufelswerk im Dunstkreis der Tanten und Großtanten. Die Pietistinnen beschworen den Nährwert kuhwarmer Milch. Auf den Rahm kam es an. Sie sangen das Hohelied des guten Bohnenkaffees. Jede umgab sich mit Sinnspruchtafeln.

Ich wollt, ich wär ein Elefant wie wollt ich jubeln laut. Es wär mir nicht ums Elfenbein, nur um die dicke Haut.