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2023-08-22 09:40:05, Jamal

„Ich war mit siebzehn so wenig auf das Leben vorbereitet, als hätte ich meine Kindheit als Ziegenhirtin in den Bergen verbracht. Ich neigte zu Naturbetrachtungen und durchstreifte Feld und Wald.“  

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„Meine frühe Welt war synästhetisch, und ich werde von den Geistern meiner eigenen Sinneseindrücke verfolgt; sobald ich zu schreiben beginne, tauchen sie auf und erbeben zwischen den Zeilen.“  

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„Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.“ 

Der Untermieter

„King Billy ist ein Gentleman“ - Der Titel der ersten Geschichte bezieht sich auf einen nordirisch-antikatholischen Gassenhauer voller protestantischer Häme, die sich in einem einzigen Vers konzentriert. Der kerngenaue Erzähler, ein Anwalt, erinnert eine 1950er-Jahre-Kindheit in der Vorhölle des eskalierenden Nordirlandkonflikts.

Träume von mörderischer Vergeltung - Im Präsens der verlorenen Zeit

Liam wächst in einem Dorf auf, das als prekäre Ausdehnung der nächsten Stadt verkümmert. Ein cholerischer Untermieter folgt dem abgängigen Erzeuger und übernimmt erzieherische Funktionen. Hellsichtig erkennt Liams Mutter in dem Nachfolger ihres Ehemannversagers einen Garanten besserer Verhältnisse.

Die Leute in der Nachbarschaft neigen zu erbarmlosen Urteilen. Sie bilden Volksgerichtshöfe der Engstirnigkeit im ewigen Mistwetter.

Hilary Mantel, „Sprechen lernen“, Erzählungen, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, Dumont, 22,-

Der Nachwuchs leidet unter tyrannischen Erzieher:innen und träumt von mörderischer Vergeltung. Liam wähnt sein „Herz im Käfig der Rippen“. Er vergleicht das Organ mit einem „Hummer in seinem Korb“. Er fühlt sich in einer rohen Gemeinschaft gefangen. Doch neben Duldungsstarre und offensiver Vermeidung von allem Möglichen ist da auch noch ein Anklang von Solidarität unter Deklassierten. 

Die Unruhe vor dem Sturm

Noch verlaufen die Demarkationslinien zwischen Protestant:innen und Katholik:innen entlang der Gartenzäune. Liam schlingert über ein territoriales Minenfeld im Rahmen der letzten Vorstufe massiv-anhaltender Gewalt.

Die Autorin fängt einen historischen Moment ein. So wie Jahrzehnte später Bands und noch etwas später Unternehmen in Garagen gegründet werden, so produziert man in den ausgehenden 1950er- und frühen 1960er Jahren in nordirischen Garagen das Equipment für den offenen Bürgerkrieg. Als Anwalt den dürftigen Anfängen entfremdet, erfährt Liam, dass sich ein protestantischer Nachbarssohn in der Garage mit hausgemachtem Sprengstoff in die Luft gesprengt hat.

Trotziges Befremden

Die Titelgeschichte - „Sprechen lernen“ - spielt in der Gegend von Derbyshire in einem Milieu, dass die Textilindustrie schuf. Anfang der 1960er Jahre besucht die Erzählerin eine Klosterschule in Cheshire. Gemeinsam mit ihren Eltern erlebt sie einen sozialen Aufstieg, dessen Details mit trotzigem Befremden verbunden sind. Zu den Anpassungen gehört ein Alltag mit eigenem Badezimmer.

Die Erzählerin erhält eine professionelle Sprachausbildung bei der ehemaligen Schauspielerin Gwen Webster. Die Lehrende spielte ihre Rollen an provinziellen Repertoiretheatern, als Dora Bryan ihre große Zeit hatte.

Herkunftshorizont

Der Unterricht flankiert eine soziale Perspektive, die den Herkunftshorizont der Erzählerin weit übersteigt. Ihre Ahninnen waren in den Mühlen des Manchesterkapitalismus pulverisierte Arbeiterinnen von Kindesbeinen an gewesen. Die Erzählerin erkundet bürgerliche Distinktionsmarken. Sprachlich antizipiert sie ihren künftigen Status. Um sich die Ermächtigungen und Aneignungen klarzumachen, weicht sie auf das Feld der Dialekte aus. Sie unterscheidet südliche von nördlichen Aussprachen des Englischen. Sie weiß, dass niemand die Spieldose der Sprachmelodie seiner Kindheit hinter etwas Aufgesetztem ganz verschwinden lassen kann. Und so wird sie auch als vollendete Aufsteigerin an die Parameter der herkunftsfamiliären Armut gebunden bleiben.  

Aus der Ankündigung

»Was wir mit Hilary Mantel verlieren, ist eine der größten souveränen Denkerinnen der Gegenwart.« DER SPIEGEL In ›Sprechen lernen‹ folgen wir Hilary Mantels Figuren ins England der Fünfziger- und Sechzigerjahre, betreten abgelegene Dörfer und Schrottplätze, besuchen altmodische Kaufhäuser und Klosterschulen. Es sind diese unscheinbaren, »von rauen Winden und derben Klatschmäulern geplagten Orte«, die zum Schauplatz eben jener Momente werden, die den jungen Protagonisten und Protagonistinnen noch lange in Erinnerung bleiben. Momente, die ihr Leben für immer prägen werden: das Verschwinden des leiblichen Vaters, die neue Identität der Mutter, das plötzliche Verlorengehen und das mühsame Sprechenlernen. Leicht, aber voller Hintersinn und mit gnadenlosem Witz gewährt uns die zweifache Booker-Preisträgerin einen erzählerischen Einblick in die Rätsel ihrer Kindheit und Jugend, ohne sie je in Gänze aufzulösen.

Zur Autorin

Hilary Mantel, geboren 1952 in Glossop, gestorben 2022 in Exeter, England, war nach dem Jurastudium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für ihre Romane ›Wölfe‹ (2010) und ›Falken‹ (2013) wurde sie jeweils mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Bei DuMont erschien außerdem u. a. die Autobiografie ›Von Geist und Geistern‹ (2015) und zuletzt der dritte Band der Tudor-Trilogie ›Spiegel und Licht‹ (2020).