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2023-08-20 10:39:17, Jamal

„In Brechts Stücken jedenfalls sind die Menschen nur Marionetten des Weltgeistes.“ Hellmuth Karasek im DER SPIEGEL 9/1978, Quelle

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„Wie stets vor einem Krieg war die Atmosphäre fiebrig.“ Henry Miller

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„Komm, geh‘ mit angeln, sagte der Fischer zum Wurm.“ Bertolt Brecht

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„Der Zweck macht den Stil … und das Schlimmste, das man machen kann, ist, etwas das keinen Zweck mehr hat, noch zu halten, weil es einmal schön war.“ BB

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„Das Labyrinth, die Gämse mit den goldenen Hörnern, der Gral … die Kirmes à la Brueghel … überirdische Transzendenz, symbiotische Neurose und auf einer öden Kieselfläche eine einsame Laubheuschnecke.“ Henry Miller

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„Ich schrieb eine größere Novelle. Sie … brachte mir dreißig Gulden ein. Ich hörte auf Handschuhe zu nähen, und begann einen kleinen Roman. In drei Monaten war er beendet und ich erhielt dafür dreihundert Gulden.“ Wanda Sacher-Masoch

Strategische Konzilianz

Bertolt Brechts letzten Interviews gleichen Denkmalbesichtigungen, obwohl der Dramatiker bis zum Schluss in den kulturpolitischen Auseinandersetzungen unter Druck bleibt. Er zeigt sich Kritik gegenüber strategisch konziliant, deutet aber auch an, dass er sich und sein Werk von den Genoss:innen nicht immer ausreichend gewürdigt sieht; dies vor dem Hintergrund, dass er als der größte lebende Dramatiker kursiert, und Brecht mit diesem Pfund für die DDR wuchert.

Bertolt Brecht, „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“, Interviews, herausgegeben von Noah Willumsen, Suhrkamp, 35,-

In Brechts Todesjahr reist Jean-Pierre Chabrol zum IV. Schriftstellerkongress des Deutschen Schriftstellerverbands vom 9. bis 14. Januar 1956. In einer Vorbemerkung gesteht der französische Delegierte seine Ahnungslosigkeit, soweit es Brecht betrifft. Er kokettiert nicht damit. Nüchtern stellt Chabrol fest, was der Fall ist. In Frankreich sind Anna Seghers und Bertolt Brecht die bekanntesten deutschen Autor:innen. Chabrol, den eine Vergangenheit als Widerstandskämpfer adelt, beweist Redlichkeit, wenn er zugibt, nichts von Brecht zu kennen. Bei der ersten Begegnung fällt ihm auf, dass Brecht die gleiche Frisur trägt wie Marlon Brando.

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Heiner Müller sagt, Brecht habe eine mythische Vorstellung von der Arbeiterklasse gehabt. Einmal wollte er sie in echt auf die Bühne bringen.

Wie geht das?

Das geht einfach so, verkündete Brecht, dass man der Gewerkschaft Bescheid sagt. So geschah es. Die Gewerkschaft schickte Arbeiter, mit denen Brecht arbeitete. Um anderen Arbeitern die Arbeiterschauspieler nicht vorzuenthalten, kaufte die Gewerkschaft das Premierenkontingent auf und verteilte die Karten. Die Kollegen steckten die Karten ein und verzogen sich in ihre Kneipen. Die Arbeiter auf der Bühne spielten vor einem leeren Saal.

Mit Realismus geht es nicht

„Mit stinkender Frechheit abgrundtief das eigene Nest beschmutzt.“ Die SED zu Heiner Müllers „Umsiedlerin“ 1961

Die Aussicht auf den „gemeinsamen Untergang (der Systeme) im Frost der Entropie“ öffnet den Blick für „eine Wirklichkeit jenseits des Menschen“. Im Heinermüllerland („Du kannst DDR zu mir sagen“) übernehmen das Theater („Was auf der Bühne gesagt wird, kann man nicht mehr zurücknehmen“) und die Literatur Funktionen von Zeitungen. „Das ist schlecht für die Kunst“, sagt HM. Er fährt fort: „Es steigert aber ihre Wirkung.“ 

Der Staat reibt sich am Schriftsteller. Das Desaster der „Umsiedlerin“ schließt HM die Einsicht auf: „Mit Realismus geht es nicht.“

Eine Zeit der Chiffrierungen bricht an. Sie erst sorgt für Müllers Ruf als schwieriger Autor. Bis dahin ist er kinderleicht zu verstehen.

Das Verhältnis eines Theatergotts zu seinem Metier fing in einer norddeutschen Spelunke an.

Müllers Verhältnis zum Theater begann in einer Mecklenburger Kneipe. Wilhelm Tell wurde gegeben. Der junge Zuschauer vermisste ein Pferd im Stück. Deshalb war die Inszenierung eine Enttäuschung. Auf der gleichen Linie liegt Müllers erste „Amerikaerfahrung“. Angeblich ging sie von Karl May aus. Dessen Kritik am weißen Unwesen bestimmte dann Müllers Perspektive. So geht die Erzählung. Sie mäandert durch das Erzgebirge und mündet vorläufig in Mecklenburg. Da nimmt ein amerikanischer Sieger dem Erzähler eine Flasche Anisschnaps weg.

„Das hat ein bisschen die antiamerikanische Einstellung … wiederbelebt, die von Karl May.“

Zwischen Karl May und dem Kriegsende pfercht HM einen verreckten Treck.

„Und ich hatte eine Flasche Schnaps liegen sehen.“

In den Geschirren liegengebliebener Fuhrwerke blähen sich die Zugtierkadaver in ihren Verwesungsfestivals. Im Werk von HM wimmelt es von toten Pferden.    

Auxiliargenossenschaft DDR

Müller sagt noch Dritte Welt. Das Highend-Amerika habe den globalen Süden inkorporiert. Da wächst der Dschungel aus der Zivilisation. Die Barbarei verkleidet sich als Zerfall und natürlich „bilden sich dauernd neue Zellen“.

Das DDR-Genie rechnet mit Amerika just for fun (ist ein Stahlbad, Adorno) ab. Müller weiß, dass viele Phänomene seiner Gesellschaft keine Chance haben, historisch zu werden. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

»Unsere Hoffnung heute ist die Krise« Interviews 1926-1956

Bertolt Brecht besaß die Gabe, wie ein Zeitgenosse einmal bemerkte, in einem »Gespräch mit präzisen, drastischen Formulierungen« zu brillieren. Wie bekämpft man die Dummheit? Ist deutsche Kultur möglich? Gehört George Orwell an die Wand gestellt? Egal welche Fragen man an Brecht hat: In diesem Buch findet man seine überraschenden Antworten.  In 75 hier erstmals versammelten, größtenteils unbekannten Interviews, die sich über 15 Länder und eine ganze Karriere erstrecken, zeigt sich der große Klassiker der Moderne als wortmächtiger Medienkünstler. Sie rücken sein Werk nicht nur in ein neues Licht - sie bilden einen unkartierten Teil dieses Werkes selber.

Zum Autor

Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war.