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2023-07-08 09:25:19, Jamal

Tatortikonografische Konnotationen

Helmut Newtons Inszenierungen bebildern den Rausch des gesellschaftlichen Aufbruchs der 1960er Jahre. Newton illustriert die Libertinage der Bourgeoisie. Die Libertinage ist eine Folge der bürgerlichen Todesverdrängung. Siehe Walter Benjamin: „Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (…) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.“ Newton liegt auf einer Linie mit Luis Buñuel und Claude Chabrol. Den Kristallisationsmomenten des Lebens liefert er surreale Kommentare in einem Mix aus tatortikonografischen Konnotationen in Film-noir-Manier und Fetisch-Accessoires. Auch Yves Saint Laurents Damensmoking verleiht Newtons Schick eine Signatur.

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„Helmut war versessen auf das Leben, und das (Leben) verlangte Taten.“ José Alvarez

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„Als ich aufwuchs, war ich wie alle in Deutschland von Nazibildern umgeben, und für einen Jungen, der von Fotografie besessen ist, hat das einen unauslöschlichen Eindruck auf mich hinterlassen.“ Helmut Newton

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„Gott sei Dank habe ich genug Fuck-You-Money verdient, um nur noch aus Leidenschaft zu arbeiten.“ HN

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„Monaco ist ein Paradies für alte Knacker wie mich. Hier passiert überhaupt gar nichts.“ HN

Genug Fuck-You-Money

Kurz nach den Novemberpogromen von 1938 emigriert Helmut Neustädter - am vorläufigen Ende eines „unfassbare(n) Wettlauf(s) gegen den Tod“ - via Triest Richtung Tianjin. Der achtzehnjährige Berliner reist mit zwei Kameras und einem Überseekoffer. Ihn dynamisiert die Katastrophe. Der schockhafte Verlust sämtlicher Gewissheiten und bürgerlicher Verbindlichkeiten wirkt sich als Katapultereignis aus.

M - Eine Stadt sucht ihren Mörder - Was zuvor geschieht

Die erste Kamera kauft er 1933, eine Agfa Box Tengor, inspiriert von László Moholy-Nagy, Brassaï  und Martin Munkácsi. Sein Vater besitzt die größte Knopffabrik Deutschlands. Nach dem Inkrafttreten der ‚Nürnberger Rassegesetze‘ 1935 wird Max Neustädter enteignet. Während ihn die faschistischen Brandbeschleuniger des Antisemitismus seelisch und sozial vernichten, rauscht sein Sohn Helmut im adoleszenten Sturm und Drang auf. Bücher sind „Heilmittel für Helmuts Ungeduld“.

José Alvarez, „June und Helmut Newton. Biografie eines Künstlerpaars“, auf Deutsch von Kirsten Gleinig, Aufbau, 231 Seiten, 28,-

Ihn reizen Kleopatra, das Kino, die griechische Mythologie. Für ein Selbstporträt inszeniert er sich 1936 in Fritz Langs M-Stil. Er präsentiert sich als Ikone. In der Stilisierung könnte er auch als George Raft durchgehen.

Vom ersten Augenblick ist sofort alles da. Die ästhetische Ladung zündet auch noch Jahrzehnte später zuverlässig. Die 1920er und 1930er-Jahre sind mit dem Auslöser verbunden. Jedes Foto verlängert die Spur einer verlorenen Zeit. Auf einer in den 1980er-Jahren entstandenen Aufnahme erscheint Jack Nicholson wie ein Bruder des Fotografen als performender Praktikant.

Die weltberühmte, 1942 im Vernichtungslager Sobibor ermordete Fotografin Yva (Else Ernestine Neuländer-Simon) erkennt die Begabung. Yva macht Helmut zum Assistenten. Eine Begnadete erlaubt dem kongenialen Debütanten, ihr „Fotostudio in der Schlüterstraße 45“ als Bühne und Labor zu nutzen. Helmut pendelt zwischen dem alltäglichen Horror in einem Regime brutalisierter Staatlichkeit und klandestinen Refugien. Ihn navigiert der Ausdruckswille.

Transkontinentale Laufbahn

Im nächsten Durchgang irrt er durch das Hafenlabyrinth von Singapur. Der Biograf schildert nicht nur Helmuts transkontinentale Laufbahn, sondern auch die Gemütsbewegungen des Versprengten. Alvarez versetzt sich in die Lage des Achtzehnjährigen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Der Exilant sucht sein Heil in Asien, weil die klassischen Einwanderungsländer blocken. In dem von Japan bedrängten und von einem Bürgerkrieg zerrissenen China gibt es keine Zugangsbeschränkungen. Das erklärt das Reiseziel. Doch gelingt es Helmut bereits in der britischen Kronkolonie Singapur vorübergehend Fuß zu fassen. Eine gravierende Rolle spielt dabei eine Person aus der hauchdünnen Oberschicht - Josette Fabien. 

Helmut erlebt den Heiligen Abend 1938 bei einer „Luftfeuchtigkeit (von) annähernd hundert Prozent“. Die Leute schwitzen sich die Fasson aus den Klamotten. Die Körperformen offenbaren sich unter den nassen Stoffen. Das stachelt „Helmuts Phantasie und Begehren“ auf.

Ohne Vorlauf avanciert der Expatriierte zum Klatschreporter der Straits Times. Zwei Wochen beschreitet er den journalistischen Boulevard. Er berichtet von Empfängen und versiebt jeden Auftrag gleichermaßen als Berichterstatter und als Fotograf.

Der Chronist beschreibt seinen Helden als „zivilisierten Streuner“. Helmut entflieht einer deprimierenden Realität in Somerset Maughams Tropical-Sundowner-Melancholie. Er erkundet die Stadt mit S. Maughams Texttopografie als Leitfaden.

Auf dem zeitlichen Rollfeld epochaler Verwerfungen trifft in Singapur „antiquierter (kolonialer) Charme“ und das schiere Elend der Tagelöhner:innen auf eine Agenda der Gewalt. Die polyglotte Unternehmerin Josette entführt den Sohn aus gutem Haus in die Separees der High Society und so auch in ihre persönliche Hotelsuite. Sie macht Helmut zu ihrem Liebhaber.

Josette verhilft ihrem „Gigolo“ zu einem Studio. Das Verhältnis verdüstert sich zügig. Jahre später ergibt sich für Helmut einer Liaison mit Josettes Schwester Kitty in Australien. Kitty empfängt den Galan nackt unter einem bodenlangen Pelzmantel. Beide reagieren auf Sacher-Masochs „Venus im Pelz“.

„Ich war entschlossen, mich ihm hinzugeben, aber ich wollte in seinem Leben nur eine schöne Episode sein.“ Wanda von Sacher-Masoch über ihr Verhältnis zu Leopold Sacher-Masoch in der Anbahnungsphase. 

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Das Porträt eines außergewöhnlichen Künstlerpaars und seiner Zeit

Ein Berliner Jude, der die Fotografie liebt, strandet in den vierziger Jahren in Australien und verliebt sich dort in eine junge Schauspielerin. Ein Jahr später heiraten June Browne und Helmut Newton. Zunächst ist sie sein Model und seine Assistentin, später fotografiert sie leidenschaftlich und erfolgreich selbst. In Paris revolutionieren die beiden gemeinsam die Kunstszene. Helmut wird zum Weltstar durch seine ungewöhnlich inszenierten Mode- und Aktfotos. June alias Alice Springs spezialisiert sich auf Porträts. Sein Werk ist nicht ohne ihren Einfluss zu denken, ihres nicht ohne seine Inspiration. Der gemeinsame Freund José Alvarez hat June und Helmut Newton Jahre lang begleitet und erzählt hier zum ersten Mal ihre Geschichte – mit außergewöhnlichen Details und bislang unbekannten Fotos.

Zum Autor

José Alvarez hat den Verlag Éditions du Regard gegründet und leitet ihn seit 1978. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Kataloge über Architektur, Kunst, Design, Fotografie usw. Er hat außerdem zwei Romane veröffentlicht. José Alvarez hat June und Helmt Newton jahrelang als Freund begleitet.

Zur Übersetzerin

Kirsten Gleinig hat Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik in Göttingen und Aix-en-Provence studiert. Seit 2002 ist sie freiberuflich als Lektorin tätig sowie als Übersetzerin und Autorin mit den Schwerpunkten Belletristik, Biografien, Kunst, Frankreich und Reise.