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2023-07-04 11:18:24, Jamal

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Flüssige Schiffe

Der „unermüdliche Flug der Mauersegler“ vor den Fenstern seines Pariser Elternhauses erscheint dem Debütanten als „Feuerwerk von Leben“. 

Ist das eine prosaische Übertreibung? Oder eine Indolenzfeststellung ex negativo? Marcel Proust kommt leidend auf die Welt. Er leidet mit beachtlicher Ausdauer. Seine Familie überzieht er mit dem Geflecht der Schonung. Seine Krisen geben den Takt an. Die Mutter stellt die fadenscheinige Gesundheit ihres Sohnes in das Zentrum eines gehobenen Fin de Siècle-Alltags. Sie nährt den Dünkel des Sohns und formt seinen Snobismus nach den Regeln einer herablassenden Gesellschaftsschicht.

„Manchmal füllte der Ozean fast mein ganzes Fenster, das durch einen Streifen Himmel besonders hoch erschien.“

Der Horizont „absorbiert und verflüssigt Schiffe“ aus dem Hafen einer vom Erzähler imaginierten Gemäldegalerie. „Der Bug und das Tauwerk“ sind aus dem Material des Himmels. Dessen Blau gewinnt die Konsistenz von Baustoffen. 

Zitate aus: Marcel Proust, „Der gewendete Tag. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in den Vorabdrucken“, aus dem Französischen von Christina Viragh, Hanno Helbling, Menasse, 24.90 Euro

1987 in Darmstadt © Hilde Roth, mit freundlicher Genehmigung von Christel Burghard-Wörfel

Seelenberserker

Der alte Zauberer ist eine Ausnahmeerscheinung - Heiler, Seher, Seelenberserker. Soweit der Segen. Das Genie verbindet sich ideal mit einem Genius loci. Der Zauberkasten steht gut auf sicherem Grund im Heilgarten. Eine Wiese voller Schlafmohn, Floh- und Katzenkraut, Sellerie, Odermennig, Schafgarbe, Rettich und Schwertlilie erfüllt die Anforderungen an eine lebende Apotheke des Mittelalters. Der Heilgarten wurde von Mönchen angelegt, die christliches Wasser predigten und magischen Wein tranken. Seine Kolonisation erfolgte aus wilder Wurzel. Keine Bauernhand hatte sich da je gerührt und kein Kult seinen Ort gefunden, bis im 13. Jahrhundert der erste Graben gezogen und auf der Oede ein Garten angelegt wurde.

Gorod (Stadt) und Garten haben denselben Wortstamm. Der eingeschlossene Raum definiert beide.

Hartmann Klingenberg siedet dicht an den Affekten. Er braucht Gewalt und Zerstörung, um sich lebendig zu fühlen und seine Form zu halten. Der cholerische Christ jagte zwei Söhne aus dem Haus. Bleiben darf nur, wer kuscht. Niemand soll aus Hartmanns Schatten treten und das Ruder übernehmen.

„Mich muss man vom Thron stürzen“, sagt er.

Er ist der Mann an der einsamen Spitze. Wem das nicht passt, kann sich in der Welt umtun. Hartmann unterscheidet nicht zwischen einem kritischen Einwand und offener Rebellion.

In der erinnerten Gegenwart von 1976

Wer sich brechen lässt, wird gebrochen. Der gebrochene Sohn rettet sich an ein Ufer der Bedürfnislosigkeit.

Ich, Sohn des Schwachen, trage den Namen des Starken. Ich verstehe vieles nicht, am wenigstens, warum meine Schwester nicht mitarbeiten muss. Britta darf aus der Reihe tanzen. Ihr gehört ein Separatzugang zu den mütterlichen Abteilungen. Mich fügt man in den betrieblichen Baukasten wie einen Gegenstand ein. Auf mich lässt sich zurückgreifen. Zwei Fragen drängen sich vor. Was unterscheidet mich von meiner angeblich hochbegabten Schwester, und warum nimmt mein Vater nicht den Kampf auf?

Vater und Großvater kombinieren Materialismus mit Spiritualität in entgegengesetzten Auslegungen. Mein milder Vater schreibt Gebete und genießt ein kleines Ansehen in dem verschwiegenen Kreis Gleichgesinnter. Das sind verschanzte Separatisten. Man ist Mitglied einer Meditationsgruppe und ergänzt einen Bibelkreis, in dem Rückführungen stattfinden und sich Leute schreiend auf dem Boden wälzen, weil sie sich im Embryonalstadium wähnen.

Hartmann amtiert als Patriarch der Sekte. Wo sein geknechteter Sohn sanft in die Gemeinschaft hineinwirkt, geht der Boss brutal in die Vollen. Er pendelt zwischen apokalyptischen Anwandlungen und einer Feinheit des Empfindens auf den Vorhöfen wundersamen Wissens. Er hat die Gabe. Ihm ist es gegeben. So befremdlich entwickeln sich die Formulierungen im biblischen Format. Denn viele sind berufen, aber wenige auserwählt. Der Auserwählte agiert als die Axt Gottes. Er verdonnert die Initiierten, beleidigt seine Frau, und macht meiner Mutter den Hof. Er überwirft sich mit mörderischer Heftigkeit. Einen Sohn erachtete er nur deshalb als abtrünnig, weil er an einem Wochenende der Abwesenheit seiner Eltern tanzen war, anstatt rund um die Uhr auf den Kasten aufzupassen. Das war Verrat. Andere sprengen ihre Elternhäuser, sobald sie zum ersten Mal sturmfrei sind, der Onkel war bloß einmal in Mainweiler um die Häuser gezogen. Jetzt verdient er sich als Topfverkäufer auf Märkten eine goldene Nase und hatte mehr Freizeit als die Zurückgebliebenen.

*

Vater und ich sind nie allein in den Nächten der heiß laufenden Maschinen. Drei, vier lemurenhafte Handlanger, die trotz ausdauernder Betriebszugehörigkeit wie Tagelöhner abgefertigt werden, verrichten in Hochämtern der stillen Selbstverständlichkeit niedrige Dienste. Dazu bald mehr.