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2023-06-25 16:20:05, Jamal

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

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„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren.“ Ian Morris

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„Die Vorstellung von einer anderen Gesellschaft bleibt ein Kraftquell, das Problem ist, dass Utopie und Geschichte sich immer weiter voneinander entfernen.“ Heiner Müller

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„Die Phantasie (der Künstlerin) ist keine creatio ex nihilo.“ Sie schöpft aus der „empirischen Realität“ auch da, wo „Dilettanten und Feinsinnige“ die Brücke zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht sehen können. Adorno

1987 in Darmstadt © Hilde Roth, mit freundlicher Genehmigung von Christel Burghard-Wörfel

Seemännischer Abfall

Die britischen Neumieterinnen veranstalteten Pyjama-Partys im Treppenhaus und tränkten die Treppenhausgewächse mit ihren Getränken. Sie sangen „We Are The Champions“.

Sie waren am Strand (so heißt der Streifen vor Khans Kiosk im Frankfurter Volksmund) und wollen auf einen Whiskey zu Jim-dem-Iren. Vorgestern waren Saskia und Scott noch in Krasnokamensk. Die Stadt steht grau und verstaubt im Schatten eines Uranbergwerks. Das Paar bemerkte Ensemble skelettierter Silos. Einträchtig verglich es die Stadt mit einem geräumten Heerlager. Rauchende Bauschutthalden erweiterten das dystopische Programm. Das Halbfertige und vor der Vollendung Ruinierte als Menetekel. Eine humane Schrumpfform auf dem Grat zwischen Niedergang und Niederkunft.

Die Prozesse der Welt scheinen in Krasnokamensk zum Erliegen gekommen zu sein. Die Geschichte gähnt. Die Zivilisation macht sich dünn. Die Zeit flieht westwärts. Auf der Metaebene der akademischen Evaluierung begegneten Saskia und Scott wandernden Völkern mit thrakischem Erbe; „ein mit einem Hauch von Latinität (bedachtes), nach dem eigenen Vieh …“ (E.M. Cioran) auf tausendjähriger Trebe russifiziert, immer kurz vor der Versklavung.

Im letzten Zusammenbruch besiedelten entkräftigte Nomaden gelinde Erhebungen der Karpaten (die Niederen Beskiden). Die Kämme bieten Aussichtspunkte für rhapsodische Recherchen.

Zwischenruf

„Kein Bürgerkriege-Atlas, kein Lexikon der Defizite vermag das Grauzonen-Reich zu umspannen, keines der üblichen Weltbilder fängt es ein. Historikern der Imperien ist die Neigung gemeinsam, die Existenz und Ausdehnung des Grauzonenhaften zu übersehen … kein Auswärtiges Amt weiß wirklich, was da draußen geschieht, wo die Irregularitäten unter sich sind.“ Peter Sloterdijk  

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Vor dem Blumenladen, in dem vorher eine Metzgerei war, treffen Saskia und Scott (halbwegs auf der sonntagsleeren Rohrbachstraße) Karolin und Cemal. 

„Wollt ihr auch zu Jim?“ fragt Karolin begeistert.

Saskia registriert sämtliche Vorzeichen einer freundlichen Übernahme. Sie findet Scotts ehemalige Verlobte besonders scheinheilig. Soweit es Scott betrifft, unterstellt sie Karolin unlautere Absichten. Saskia verstimmt die anmaßende Attitüde alter Vorrechte bei der Rivalin, die als Scotts liebste Nachbarin nach wie vor bedrohlich präsent ist.  

Jims Kneipe steckt voller seemännischem Abfall. Karolin dekoriert den Kneipentürrahmen mit einer Pose malerischer Ausgelassenheit, während die Männer in einer Schankraumnische Heimlichkeiten austauschen.

Saskia insinuiert, dass Karolin mit einstudiertem Verhaltensvokabular analoge Likes sammelt. Der Soziologe Rachid Amirou berichtet, dass in einer ruralen Pittoreske Rentnerinnen und Rentner dafür bezahlt werden, als Akteure des Typischen aufzutreten. Zu den Stoßzeiten des täglichen Touristenaufkommens erscheinen sie als unverwüstliche Vertreter:innen des ländlichen Frankreichs. Sie spielen Boule und trinken Pastis. Vor allem lassen sie sich ohne Zeichen der Gereiztheit fotografieren.  

„Wo steckt mein Mann?“ fragt Karolin. Sie ist seit drei Monaten mit Cemal zusammen. Saskia und Scott wissen, dass die Pfeilspitze von Cemals Zuneigung kreiselt wie eine irritierte Kompassnadel.  

Müßiggängerinnen bleiben vor der Kneipe hängen. Der Ire könnte als Sizilianer alten Schlags durchgehen. Immer wieder gerät Jim in sagenhafte Schwierigkeiten. Dann finden im Gebiet (dem Nordend) Verfolgungsjagden statt. Jim räumt Stühle und Schirme zu Tischen auf dem Bürgersteig. Er setzt sich zu den Paaren. Ein Stammgast geht in den Service, Jim nennt das Erlebnisurlaub. Er verkauft original irisches und schottisches Wasser, angeblich um den Whiskeygeschmack wie einen Schatz vom Meeresboden zu heben. Man kann bei Jim gigantische Zechen machen.

Mit bevorzugten Gästen übt Jim gälische Trinksprüche. Saskia glaubt, dass er Frankfurter Leitungswasser mit interessanten Etiketten auf den Flaschen als irisches Quellwasser verkauft. Sie kann sich an Scott nicht sattsehen. 

Jim schmeißt eine Runde, um Saskia in seinem Bürgersteigrevier zu halten.

Saskia ist ein Magnet. Zwanghaft suchen die Gebietsauguren ihre Nähe. Ohne ernste Absichten wünscht sie sich einen Mangel und sei es Kälte; so dass sie wieder einmal einen Kragen aufrichten und die Schultern hochziehen könnte.

Sperrmüll in spe

In der verträumten Sommerszene kommt bei Saskia Langeweile auf. Sie registriert lauter Sperrmüll in spe im Wohnzimmer vor ihrer Nase. Im Erfolg von Ikea offenbart sich jene Ästhetik zwischen Prosperität und Pazifismus, die zur Epochensignatur geworden ist.

Erst jetzt formieren sich Saskia, Karolin, Scott und Cemal zu einer geschlossenen Sonnenschirmgemeinschaft. Am Nebentisch schwadroniert eine über die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. Die ins Allgemeine diffundierte, in Academia populäre Idee, man könne der bürgerlichen Karriere ein revolutionäres Krönchen aufsetzen: Ulrike Meinhof avancierte nicht zuletzt deshalb zum Idol. Die Pistole in ihrer Handtasche wirkte ikonografischer als das Emblem der Roten Armee Fraktion. Gleichzeitig symbolisierte die Waffe ein biografisches Desaster. 

Meinhof überließ ihre Kinder Kampfgefährtinnen, um den Töchtern ein bürgerliches Schicksal zu ersparen. In den Feuchtgebieten der Organisationsform Familie sumpfen ursprünglichste Informationen. Man staunt, wie klein jene Gruppen waren, die unseren Anfang im Jungpleistozän überlebten. Nomadische Beutemachergemeinschaften betrieben (waffenlose) Ausdauerjagd nach dem Prinzip andauernder Beunruhigung. Sie scheuchten das Wild, bis es sich der Erschöpfung ergab. Heute noch hetzen isolierte Ju/’Hoansi-Gruppen im Nordosten Namibias Tiere zu Tode.
„Die besten Menschen bewahren sich einen nackten Hintern“, glaubt Paul Theroux. Die „goldfarbenen“ Ju/’Hoansi erschienen mit asiatischen Zügen in ihren angestammten Verbreitungsgebieten als Nachfahren von Migrant:innen. Man weiß nicht, wen sie verdrängten, doch kennt man ihre Verdränger:innen. Sie überlebten als Spezialist:innen für trockene Gebiete, um nun in Fetzen aus deutschen Altkleidersammlungen an Stadträndern zu verelenden.

Soziale Schatten

Michel Foucault zitiert irgendwo Demokrit, der den Geschlechtsverkehr mit „einem kleinen Schlaganfall“ vergleicht. „Die heftigen Bewegungen, die mit dem Koitus einhergehen“ gehören nach Rufus von Ephesos „der Familie der Spasmen“ an.

Kaum sind Saskia und Scott gekommen, setzen sie ihre Diskussion fort. Menschliche Werte haben biologische Wurzeln, sprich genetische Anker. Sie sind Anpassungsprodukte. Sie stehen in einem funktionalen Zusammenhang mit evolutionären Anforderungen. Saskia unterscheidet drei Generallinien unserer Entwicklung: Freibeuter:innen, Bäuer:innen, Nutzer:innen fossiler Brennstoffe. Jede Lebensform sieht sie in Abhängigkeit von der gerade legitimen Energiegewinnung. Scott erinnert das an eine Bemerkung von Paul B. Preciado. Der Philosoph behauptet, die ersten Maschinen seien Sklav:innen gewesen. Aus ihrer Energie zogen agrarische Gesellschaften jene Überschüsse, die den Bestand auf der Achse Energie - Kultur - Technik gewährleisteten.

Die längste Zeit schweifte die Gattung aus. Sie war so viel länger auf die natürlichste Weise Wildbeuterin als sie Nutzerin fossiler Energie und Genmanipulatorin ist, dass in uns allen die Sehnsucht nach dem Wald schlummert. Vor zwanzigtausend Jahren waren wir noch ausnahmslos Jäger:innen und Sammler:innen.

Kleine Gruppen, flache Hierarchien, kaum Privateigentum, große Reviere: Zwei bis acht Verwandte waren mit stärkeren Verbänden fortpflanzungstechnisch verbunden. Gemeinsam sprangen unsere Ahnen in den Genpool.

Es gab Varianten im Schlaraffenlandspektrum. Reiche Jagdgründe begünstigten die Sesshaftigkeit. Sesshaftigkeit begünstigte die Anhäufung immobilen Besitzes und den Aufbau von Hierarchien. Die stationär agierende Trapperin nahm die Bäuerin vorweg.

Die Wildbeuter:innen der Gegenwart agieren nach einer anthropologischen Hauptmeinung im sozialen Schatten der Fossilenergienutzer:innen anschlusslos an prähistorische Vorgänger:innen. Die akademischen Imperative grassieren. Der Kalorienverbrauch nimmt mit der Nähe zum Äquator ab. An den Polen ist er am höchsten. Zeit und Aufwand zur Energiegewinnung unterliegen der Rationalität.

Saskia und Scott unterbrechen sich, um noch einmal Sex zu haben, an einem ruhigen Samstagnachmittag in Saskias Schachtelreich über Gabis Silberblick. Die Steilküste ihrer Kindheit hängt als abgepaustes Foto in der merkwürdigen Bleibe, neben einem antiken Tomahawk, einer kostbare Rarität aus der Ära vor dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (eine Boarding Axe der Königlich Britischen Marine). Früher hausten in solchen - Treppenhäusern und Versorgungslabyrinthen abgetrotzten - Räumen Faktoten; lemurenhaft-gespenstische Erfüllungsgehilf:innen eines durchgreifenden Willens. Sie schmerzte das Entsetzen, das sie unter Kindern verbreiteten.

Früher brüteten Vögel in einem Rollladenkasten des Silberblicks. Pharaonische Totenstille diffundiert durch die Ritzen der Kneipendecke.  

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Eine Bahn sinkt in einen Tunnel. Ein Auto fährt durch eine Pfütze. Saskia denkt an einen Film, den sie vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen habe. Zufriedenheit stellt sich bei der Betrachtung eines Mittelstreifens ein.

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Karolin kann sich inzwischen sogar vorstellen, mit Cemal in der Wetterau zu leben. Ihre Ablehnung der Neumieterinnen teilt sie mit Scott. Die Angelsächsinnen stellen alle in den Schatten, stets sind alle eingeladen. Sie veranstalten Pyjama-Partys im Treppenhaus und tränken die Treppenhausgewächse mit ihren Getränken. Sie singen „Walking by Myself“.

Sie lassen Gläser auf der Treppe stehen. Sie baden und staubsaugen in frühen Morgenstunden. In ihren Kreisen sind sie Celebrities. Das Fernsehen war schon da. Scott schraubt den Gartenschlauch vom Hofhahn und sichert ihn im Fahrradschuppen.  

In seiner formidablen Eigentumswohnung betrügt Scott Saskia mit Karolin. Dazu bald mehr.