MenuMENU

zurück

2023-06-21 08:06:01, Jamal

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

*

„Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten.“  Konstantin Ziolkowski

*

„Früher … interessierte sich keiner für mich, und ich konnte in Ruhe malen.“ Gerhard Richter, Quelle

*

„Ob man es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.“ Jürgen Becker

*

„Den Möbeln eine Stimme geben, damit sie endlich erzählen können.“ JB 

*

„Wenig hat sich geändert, aber nichts (ist) mehr, wie es war.“ JB

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Sizilianische Szene

In Giovanni Vergas Roman „Die Malavoglia“ bevölkern die Titelheld:innen einen ionisch-sizilianischen Flecken mit Ausblick auf die zerklüfteten Isole dei Ciclopi. Ein Mispelbaum im Vorgarten des Stammsitzes taucht in den lokalen Erzählungen als heraldisches Motiv, Wahrzeichen und göttliches Ausrufungszeichen auf. Das kulturelle Gedächtnis der Einheimischen assoziiert mit dem Dynastiezeichen trotzige Beständigkeit. Der Baum widersteht bis auf Weiteres der Tramontana. Der mit Heimspielrechten regelmäßig aufbrausende Sturm droht mit Entwurzelung.

Der Bestsellerautor (und ehemalige Kyokushin-Weltmeister) Cole von Pechstein sucht nach einem narrativen Saumpfad von der sizilianischen Szene zu jenen Verhältnissen im Dunstkreis des Saaler Boddens, die ihm zurzeit das Kolorit liefern.

Staub tanzt in funkelnden Spiralsäulen über dem Schreibtisch. Wie wohl ihm ist: Cole muss sich am Riemen reißen, um nicht zu jubilieren. Er eist sich vom Rechner und begibt sich zur Kaffeemaschine. Seit zwei Jahren gehört ihm das Van-Beuten-Kapitänshaus in Alt... Cole genießt den Mix aus baltischer Küchenantike und Lavazza-Moderne. Er feiert den bündigen Anblick der - Delfter Keramik nachempfundenen - Kacheln über dem Tiefbecken. 

Cole folgt Gebrauchsspuren. Er studiert die sich anschleichende Gleichzeitigkeit der Dinge. Er verliert sich in der Küchenfensterbeobachtung eines Einparkmanövers der millionenschweren Nachbarin. Alena Westphal erschöpft sich im Klischee auch da, wo sie ihren Gärtner als Liebhaber einspannt. Für den Familienvater endeten in dieser Rolle Verhältnisse von bestechender Solidität. Der archivarische Charakter solcher Feststellungen. Der Autor bewegt sich auf unterspülten Rändern der verlorenen Zeit eines Anderen. 

In einem Erinnerungsschluckauf memoriert Cole mehrsprachige Verständigungsabbrüche während eines Backpacker-Outpost-Abenteuers vor zwanzig Jahren. 

Was klingt an? Was hallt nach?

Cole inspiziert seinen Garten. Spreen (niederdeutsch: Stare) halten ihr Morgenmeeting ab. Die kleinen Vögel sind große Plünderer. Die Zeiten, als man mit Vogelscheuchen Ernten zu sichern versuchte, sind lange vorbei. Die Dekorationen der Attrappen verrieten eine festliche Freude am Unfug. Man schmückte die Besen wie Weihnachtsbäume.

Das Vergnügen an den Scheuchen nannte man heidnisch. Die christlichen Seefahrer konferierten mit ‚Wilden‘. Die Konferenzen nannte man Palaver. Die ‚Wilden‘ brieten ihre Feinde am Spieß, es sei denn, sie garten sie in Zubern, die sie gegen gespenstische Ritualgegenstände und pures Gold in Klumpen eingetauscht hatten.

Obst war ein Haushaltsfaktor. In der DDR wurde eingeweckt wie im Fieber. In einem Schuppen vergammelt eine Wellenradwaschmaschine aus dem VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg. Mit der legendären WM 66 ließ sich Strom erzeugen, Obst konservieren, Radio hören und Wurst brühen.

Von Brombeerranken durchzogenes Unterholz schließt den auf Pflegeleicht getrimmten Garten zum Bodden ab. Der Längssaum besteht aus Weiß- und Schlehdorn, Kartoffelrose und Berberitze. Ein paar Beete und Sträucher unterbrechen die Wiesenmonotonie. Dann gibt es noch eine Baumarktkomplettlösung als Grill-Sitzecke. Das Arrangement ist weit und breit einmalig. Die von Berliner:innen und Hamburger:innen restaurierten Boddenhöfe links und rechts haben Obstgärten mit jeder Menge Kirschknorz und malerisch gebeugten Birken. Keltern und Brennen gehören für die Städterinnen zur Landliebe-Folklore.

Kokura

Das Großartige bildet eine Linie ohne Gefälle in Coles Leben. Vollwaise seit dem dritten Lebensjahr (die Eltern starben bei einem Flugzeugabsturz), wurde er von einer Schwester seiner Mutter, der in Japan aufgewachsenen Gōjū-Ryū-Großmeisterin Maeve von Pechstein, nach karatepädagogischen Devisen erzogen. Von seinem siebten bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr durchlief Cole zwei Exzellenzstationen; zuerst als Novize in einem Karatekloster auf Okinawa (der Archipel vor Japans Haustür war souverän einst als Königreich Ryūkyū) und dann in Fuzhou, der Hochburg des White Crane Gong-fu. Die legendäre Shaolin-Mönchstochter Fang Chee-Niang soll in der chinesischen Provinzkapitale Fuzhou beim Beobachten eines impertinenten Kranichs kampfkünstlerisch kreativ geworden sein.

“I was told to train day and night.” Shinjo Kiyohide

“Whether you awake or asleep always think about Karate.” Matsuda Hirokazu

“(Karate) is like how a strong sword requires the process of heating, hammering and cooling the metal repeatedly.” Kanji Uechi

In seinen einsamen Jahren wirkten auf Cole monolithische Erscheinungen und hermetische Existenzen ein. Sie lehrten ihn, dem Glück zu vertrauen.

Kokura ist in Japan ein geflügeltes Wort für unverdientes Glück.

Am 9. August 1945 war Nagasaki lediglich ein Ausweichziel. Wäre bei der Mission des Majors Charles W. Sweeneys alles nach Plan verlaufen, trüge Kokura gemeinsam mit Hiroshima die Menetekellast nuklearer Verdammung.

Kokura kursiert seither als Synonym für unverschämtes Glück. Der Herrensitz Kokura stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert. Zuerst residierte Hosokawa Tadaoki, ein Daimyō der Edo-Epoche, in der Festung. Zur ästhetischen Aufwertung der Militärarchitektur zählt ein opulentes Kirschbaumensemble. Der Garten gehört zu den historisch prominenten Zielen der Blütenpilger:innen.

An einem Frühlingstag im Jahr 1612 duellierte sich Miyamoto Musashi mit Sasaki Kojirō auf Ganryū-jima, einer Insel in Rufweite der Burg. Zur Poesie der Begegnung zählt ein langer Riemen über psychologische Kriegsführung. Musashi, damals ein alter Hase von dreißig Jahren, ließ seinen Gegner warten, das heißt schmoren. Er trat mit einem Holzschwert an, geschnitzt aus einem Ruder. Sasaki kannte man als Meister extralanger Kaltwaffen. Musashis Gegenmittel mochte stumpf sein, es war indes noch länger als Sasakis legendäres Ōdachi Monohoshizao.

Sasaki trat unter dem Nom de Guerre Ganryū auf, bis ihn Musashi mit einem deklassierenden Gegenstand tötete.