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2023-06-16 11:07:32, Jamal

Da sitzt sie, die taubengraue Frau Čarnica. Geradezu äquilibristisch bewahrt sie sich eine jugendliche Note und suggeriert das Nachbild einer selbstsüchtig Pubertierenden. Sie simuliert die unbekümmerte Art der Nomenklatura-Elevinnen.  

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Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

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„Die Hochzeitsgäste werden zu einem einzigen Tier, das gut gefressen hat.“ John Berger  

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„Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit.“ Novalis

Frankfurt 2000 © Jamal Tuschick

Vorgetäuschte Republikflucht - Was zuvor geschah

Angst vorm Fliegen erschien Mitte der 1970er Jahre auf Deutsch. Zehn Jahre später löst Erica Jongs Debüt in der aus Ahrenshoop gebürtigen, in Mühlheim am Main gestrandeten, vorgeblich republikflüchtigen Zootechnikerin (und Kundschafterin des Friedens) Elke Čarnica ähnliche Empfindungen aus wie Geschichten in Westillustrierten über Reiche auf Sylt, Marianne Bachmeiers Rache, die New Yorker Mafia und Uschi Obermaiers breit diskutierte Liebe zu Dieter Bockhorn.

In der südhessischen Idylle angelt sich die HVA-Agentin den von Grund auf harmlosen, bodenständig-soliden Einar Ehrentraut. Mit „frauenspezifischen Methoden“ treibt sie ihn in die Hörigkeit. Elke haut Einars Steifftiermenagerie in die Tonne. Sie bemächtigt sich seiner Plattensammlung und lässt sie auf Geheimdienstdschungelpfaden in die DDR schaffen.      

Ahrenshoop im Sommer 2017 - So geht es weiter

Da sitzt sie, die taubengraue Frau Čarnica. Geradezu äquilibristisch bewahrt sie sich eine jugendliche Note und suggeriert das Nachbild einer selbstsüchtig Pubertierenden. Sie simuliert die unbekümmerte Art der Nomenklatura-Elevinnen.  

Erica Jongs Alterswerk Angst vorm Sterben liest sie in einem eingemauerten Garten am Hohen Ufer. Die Treckspur zum Strand verläuft direkt hinter der Mauer.

Öffentlich identifizierte sich Erica Jong einst mit der aviophobien Isadora Wing. Die Nachfolgerin der Angst-vorm-Fliegen-Heldin kennt keine Flugangst. Vielmehr fühlt sich Vanessa Wonderman nirgendwo wohler als im Luftraum zwischen New York und Los Angeles. Im Gegenzug bedürfen ihre sexuellen Höhenflüge auf der anderen Seite des Geschehens pneumatischer Unterstützung. Viagra verstimmt den abgöttisch geliebten, gerade einmal zwanzig Jahre älteren, hoch vermögenden Gatten. Während Asher nur noch am Leben bleiben möchte, verlangt Vanessa von dem Greis Sex, um sich lebendig zu fühlen. (Als Mittel gegen die Angst vorm Sterben.) Sie betrügt den Hinfälligen mit einem Schauspieler vom Schlag jener, die als junge Männer James Bond spielen und danach andere Hauptrollen.

Ihren Lebensunterhalt bestreitet Elke nun mit Einnahmen aus Vermietungen und Verpachtungen, auch wenn sich in der Agentur Čarnica Vilde Fisker um das operative Geschäft kümmert. Die Hand auf viel Geld legte Elke, als die Seefahrerschule in Wustrow umgewandelt wurde.  

Sperrwerke aus engmaschigen Zugehörigkeitsbegriffe distanzieren fremde Akteure. Elke profitiert von Manövern ehemaliger Stasi- und HVA-Schlapphüte, die wir aus dem Nord-Stream-Business und so auch aus der Schweriner Staatskanzlei kennen. Die Fachleute besuchen ihre Gegenspieler:innen schon mal mit der Glock im Anschlag.

Nach einem Zwischenspiel als Frau Ehrentraut hat die mare-baltico-mafiosa wieder ihren Mädchennamen angenommen. Ihr Verhältnis zum Ex ist so gut, dass Elke und Einar im Skipperhus eine Wohngemeinschaft bilden. Der Einzelkaufmann mutiert ihm Ruhestand zum Self-care-Guru. Müde lächelnd ignoriert Elke die Gaga-Fröhlichkeit der hauptsächlich zwischen Berlin und Ahrenshoop pendelnden Knacker, die Einar zu ihrem Mobilitätsfürsten gemacht haben.  

Das Reetdach des Skipperhus wacht über sieben Zimmer und einer Mansarde, die sich leicht in eine stadtfeine Wohnung verwandeln ließe. Urbaner Schick direkt am Strand.  

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Die Tage gleichen sich aufs Angenehmste. Doch hinter jedem Busch lauert eine Hyäne der Vergänglichkeit. Grööngood-Xuan kreuzt mit den Drogen für die kommende Woche auf. Der Nachfahre eines Dschungelkriegers des Việt cộng, der auf den Pfaden der sozialistischen Bruderhilfe via Rostock und Kasernierung nach Ahrenshoop gelangte, zählt sich geschmeichelt zu den Handlangern der Ostsee-Mafia - den Panntjefiskes.

„Als die DDR Geschichte wurde, waren die Vietnamesen mit rund 60.000 Menschen die größte Gruppe von Ausländern im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat. Bereits Mitte der 1950er-Jahre nahm die DDR im Rahmen von Solidaritätsprogrammen Vietnamesen auf. Der Höhepunkt wurde allerdings erst mit den so genannten Vertragsarbeitern Ende der 1970er-Jahre erreicht.“ MDR Zeitreise

Elke bietet Xuan Kaffee und Torte an. Die Gastgeberin und ihr Dealer plaudern über Bücher. Xuan liest zurzeit alles Erreichbare von Arno Schmidt.  

Marcel Reich-Ranicki äußerte sich so selten wie gründlich über Arno Schmidt. 1967 brachte er in dem Radioessay „Eine Selfmadeworld in Halbtrauer“ Schmidts Selbststilisierung auf den Punkt.  

„Das Gehirntier. Das Genie. Der Solitär. Der Einsiedler. Vor allem aber: Der Verkannte! So stellte sich Arno Schmidt Zeit seines Lebens dar.

Schmidts Bücher waren immer greifbar, zum Teil in edlen Ausgaben. Er heimste Preise ein, fand Gönner, und auch vom Radio kamen Angebote zuhauf. Arno Schmidt war lange Jahre das Lieblingskind der bundesrepublikanischen Redakteure.“ Quelle

Elke bedenkt Ranickis Abwehr eines Schriftstellers, der sich zwar antimilitaristisch gerierte, aber doch viel mehr noch als die 1947er um Hans Werner Richter mit ihrer Alibi-Aichinger und der idiosynkratischen Ingeborg in den Knobelbechern der Wehrmacht steckengeblieben war. Elke zerpflückt den Heide-Solipsisten mit seiner krachledernen Rhetorik und Rumpelerotik.

Bei Schmidt tauchen „begatten“ und „koten“ in einem Satz auf. Da schwingt sich ein Literatur-Tarzan von Ast zu Ast, wenn auch in einem längst vergangenen Präsens. Elke überlegt, welcher ostdeutsche Schriftsteller der DDR-Schmidt war. Sie verliert den Faden, wie so oft in letzter Zeit. Sie taumelt und trudelt in die Gedankenlosigkeit. Das ist ein gefährlich leerer Raum.

Elke ruft sich zur Ordnung. Sie stellt sich seelisch wieder auf die Beine mit einem bewährten Tagtraum. Darin ist sie die Tochter eines Kapitäns, obwohl schon ihr Großvater nicht mehr zur See fuhr.  

Ihr Blick flüchtet in den Garten und hält an bei dem Porsche Diesel Junior aus einer 1950er Baureihe. Das ist eine Antiquität unter Traktoren. Volksschlepper nannte man die Zugmaschinen zu DDR-Zeiten.

Xuan verabschiedet sich mit dem Gefühl, ein Stein im Brett der Patin zu haben. Dazu bald mehr.