MenuMENU

zurück

2023-06-06 10:37:18, Jamal

„Wenn ich tot bin, wird mein Staub nach dir schreien“. Heiner Müller

*

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

*

„Fünftausend rosa Slips bejahen nicht das Leben.“ HM

Frankfurt 2000 © Jamal Tuschick

Tödliche Handtechniken - Was zuvor geschah

Auf dem Weg zur Leipziger Messe lernt der Westberliner Chemielaborant und informelle Staatsschützer Tillmann Eisenstein 1984 die im Modeinstitut der DDR beschäftigte Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. Zum ersten Mal intim werden sie in der mondänen Wohnung von Arinas Messewirtin Barbara Frühauf. Bald ist Barbara involviert. Nebenbei erledigt das athletische Mannequin mit tödlichen Handtechniken einen Spitzenfunktionär ihrer eigenen Nomenklatura. Sie absolviert den Hit (Terminus technicus) zwischen zwei Durchgängen einer politisch von höchster Stelle gewollten Ménage à trois, ohne auch nur mit einem Stresssymptom Tillmann zu informieren.

Der Tote vor der Tür

Zu den mysteriösen Todesfällen, die mit einem direkt von der DDR-Führung autorisierten Mordkommando in Verbindung gebracht werden, gehört der vorgebliche Unfalltod von Benedikt Achtleben. Der DDR-Außenhändler kam in der Nacht auf den 19. März 1984 im Treppenhaus seines Leipziger Messequartiers (sprich Barbaras Wohnung) ums Leben. Die polizeiliche Rekonstruktion des ‚Unfallhergang‘ liest sich dem Sinn nach so: Achtleben stürzt betrunken auf der Treppe. Er rappelt sich auf und wankt angeschlagen aus dem Haus. Auf dem Bordstein verliert er das Gleichgewicht und knallt kopfüber auf eine Gehwegplatte. Dabei zieht er sich tödliche Verletzungen zu.

Achtleben war seit 1980 Direktor der Ost-Berliner Außenhandelsfirma Asimex, die der Stasi-Hauptverwaltung A (HVA) untersteht. Diese Firma der „Firma“ stattet das Luxussegment der Intershops und Interhotels aus und versorgt Politbüromitglieder mit westlichen Spitzenprodukten. Offizieller Gründer der Asimex ist Günter Asbeck. Er war der erste Eventmanager der DDR. Reich machte ihn Schmiergeld von Westkonzernen, die in das DDR-Geschäft drängten. Die HVA ließ Asbeck gewähren, weil sie ihn als Finanzexperten brauchte.

Bis auf Weiteres bleibt er der informativste Überläufer im Kalten Krieg. Mit intimen Kenntnissen des inneren DDR-Machtgefüges kam er 1981 in den Westen. Er überbrachte die Botschaft, dass sein Chef ihm folgen würde, sofern die Bundesrepublik einen gewissen Standard garantiere. Dazu konnte man sich nicht entschließen. Deshalb dealt der Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski nach wie vor für die DDR.

Von Asbeck erfuhr der BND, dass die DDR mit 26 Milliarden DM im Westen verschuldet ist.    

Sex mit der Killerin

Arno von Senft informiert Tillmann über Barbaras Spielräume in einem konspirativen Westberliner Apartment am Lützowplatz. Arno, Berlin Ranger der ersten Stunde, rühmt sich einer persönlichen Bekanntschaft mit Colonel Aaron Bank, dem Vater sämtlicher Special Forces und Gründer der Berlin Rangers. Außerdem feiert er sich als Tillmanns „Entdecker“. Tatsächlich behauptet ein halbes Dutzend BR-Ausbilder:innen, das Talent zuerst bemerkt und gefördert zu haben.

*  

Zwei Wochen später am Althagener Hafen (hart an der Grenze zwischen Vorpommern und Mecklenburg). Da Tillmann ein DDR-Dauervisum besitzt …

Ein Dauervisum beschleunigt das Grenzprocedere. Der Regelungswahn der DDR-Administration geht so weit, dass Westberliner:innen manche Grenzübergänge nicht nutzen dürfen. Bundesbürger:innen unterliegen ebenfalls solchen Einschränkungen. Auch ihnen stehen nicht alle Übergänge zur Verfügung. Deshalb reist Tillmann mit einem westdeutschen Pass, um jederzeit mit „echten“ Bundesbürger:innen die Grenzstationen für Westdeutsche passieren zu können. Gemeldet ist er in Kassel, wo die Eisenstein-Dynastie ihren ersten Sporn in die Welt trieb.

Tillmann ist also berechtigt, sich Tag und Nacht überall in der DDR aufzuhalten. Der seltene Status muss alle sechs Monate neu beantragt werden. Er gewährt Einblicke in den DDR-Alltag, wie ihn kaum eine Westperson aus eigener Anschauung gewinnen kann.

Die DDR ist viel preußischer als die Bundesrepublik, ein Obrigkeitsstaat, in dem sich Bürger:innen vor Vertreter:innen der Staatsmacht auch da ducken, wo die Macht an sich nur Fürsorgepflichten wahrnehmen dürfte. Bei der Volkspolizei herrscht die unangenehme Neigung vor, den Büttel von brüsk bis brachial raushängen zu lassen. Kontrollen haben oft den Charakter von Schikanen, Tillmann wird das Gefühl nicht los, dass sich die Volkspolizisten in Ausübung ihrer Amtsgewalt abreagieren.  

Baltischer Ballermann

Barbara geht als apart derangierte Campingplatzschönheit unter die Leute am Nordwestufer des Saaler Boddens.

Die NVA vertritt sich die Stiefel am Strand. Von hier sind schon Leute auf Luftmatratzen Richtung Dänemark aufgebrochen.

Barbaras Bandbreite erregt Tillmann. Die Vorstellung, wie wenig bei ihr zwischen Umarmen und Erschlagen liegt, mischt ihn auf. Barbara drängt Tillmann zu einer belagerten Fischbraterei-Bude. Es herrscht Partystimmung. Der baltische Ballermann (baltische Ballerfrau) lässt es krachen.

Fünfzehn Jahre später

Mit neun passten ihr die Stiefel einer Tante, die Turnierreiterin war. Ein Raum im Haus der Verwandten war Trophäen vorbehalten. Ein weitergereichtes Paar trug Barbara voller Stolz, solange es eben ging. Daran denkt sie im Darßer Urwald. Sie bricht ihren Schwur am Saum der ursprünglichen Uferlinie, wo vor dreitausend Jahren (bis zu einem Strömungsumschwung) Ostseewellen aufliefen. 

Barbara betrügt ihren Mann (Sie kennen ihn, ja, es ist unser transatlantischer Fels in der Brandung Tillmann Eisenstein) mit einem Freund seit Kindertagen in einer Galerie vom Wind gedrückter Kiefern auf dem Kliff. Sie sieht malerisch gewachsene Buchen, Fichten, Eiben, Lärchen, Douglasien und Erlenbrüche. Das Wasser steht im Unterholz wie in den Everglades.

Barbara und Raimund wuchsen auf dem Blankenfelder Gestüt an der nordöstlichen Stadtgrenze von Berlin auf. Auf der anderen Seite der Landesgrenze lagen in Sichtweite die Reiterhöfe von Lübars. Jedes Jahr verbrachten Barbaras und Raimunds Familien die Sommerferien an der Ostsee auf dem Campingplatz von Prerow. Den Schauplatz ihres Stelldicheins kennen Barbara und Raimund beinah von jeher. Nach ein paar Post-Wende-Experimenten auf Mallorca und Sonst-wo kehrten Barbara mit ihrer Familie und Raimund mit seiner - unabhängig voneinander und erklärtermaßen für immer - zurück zu ihren ostdeutschen Urlaubsparadiesroutinen.

Gemütliche Schamlosigkeit

Barbara und Raimund waren auf keiner Montagsdemonstration. Sie beschwören das Glück einer sozialistisch soliden Kindheit. Sie beschäftigt die Idee von der nicht so populär gewordenen Fassung einer Legende, deren Standardversion zur Tapete heruntergekommen ist. Alles dreht sich um die verlorene Zeit. Die eigenen Kinder tun ihnen leid, während Barbara und Raimund an den Stäben ihrer Ehen rütteln und die Stabilität ihrer Verhältnisse strapazieren.