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2023-03-02 10:22:56, Jamal

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„Wir haben steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen und gottgleiche Technik.“ Edward O. Wilson

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„Die Schönheit der Formulierung eines barbarischen Tatbestands enthält Hoffnung auf die Utopie.“ Bertolt Brecht 

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„Es gibt keine ortlosen Texte.“ Volker Braun

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„Amateur- und Profiboxen unterscheiden sich wie Feuer und Wasser. Ich verabscheue, dass der Mensch zur Ware wird.“

Henry Maske 1988, damals DDR-Olympiasieger, Amateur-Weltmeister, dreifacher Amateur-Europameister

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„Die deftige Lebenslust der Deutschen hat etwas Ansteckendes. Das Essen dauerte drei Stunden, und danach wurde gekegelt.“ James Boswell, Journal

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„Ich wusste nicht, dass der Preis/dafür, ein Lied zu/betreten, der Verlust/des Rückwegs ist.“ Ocean Yuong

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„Am Ende war von der Stadt nicht mehr viel übrig und doch etwas, das man lieben konnte, dass ich liebte: die ihres Verputzes entkleideten, in der Abendsonne rötlich glühenden Ziegelmauern, die durch Ruinen bucklig führenden Trampelpfade, die Akazienschösslinge und Buschwindröschen, das Wiehern der Pferde in den verwilderten Gärten.“ Marie Luise Kaschnitz über Frankfurt am Main 1945 

© Jamal Tuschick

In der Förmlichkeitsfalle

Beim Malaga-Mike sitzen sie am Fenster mit freiem Blick auf das schlanke Hochhauswohnheim der Schwesternschülerinnen. Ein halbes Jahr nach der Trennung erscheinen sie vielen noch als Paar. Sie arbeiten weiter zusammen und nach der Schicht sitzen sie so zusammen wie immer. Sie begrüßen und verabschieden sich wie ein Paar. Kein Dritter erkennt die kleinen Verzögerungen und Verschiebungen, die das Vollbild der Vertraulichkeit allmählich aus dem Rahmen nehmen. Sie verbringen ihre freien Abende gemeinsam, sie gehen nur nicht mehr gemeinsam nach Hause.

Sie vermeiden Streit, sie stecken in einer Förmlichkeitsfalle. Sie richten eine Denkmalschutzkommission ein, zur Bewahrung der schönen Momente. Manchmal geraten die Trennungsgründe ins Schweben und Trudeln.

Eine Weile können sie sich nichts mehr sagen, ohne wenigstens einen Rückzug einzuleiten. Wenn Cameron eine bestimmte Sache besprechen möchte, will Britta bestimmt kein Wort gerade über diese Sache verlieren. Sie hat Angst, dass sich das Gute ihrer gemeinsamen Vergangenheit in Camerons ignoranten Betrachtungen verformt. Sie fürchtet Ranküne. Aus diesem und jenem macht Cameron für Britta eine haarige Angelegenheit.

Britta träumt von Kenneraugen für ihre Schätze. Sie träumt von einem, der sie im Zentrum seiner Aufmerksamkeit unterbringt. Bis dahin könnte sie eine Affäre gegebenenfalls auch mit Cameron haben.

Sie sitzen vor Khans Kiosk am Strand; so heißt ein Streifen im G…park im Volksmund der Eingeschweißten. In ihrem Rücken wirbeln Kinder spielend Staub auf. Der Staub überzieht sämtliche Flächen. Er nistet sich in Haut- und Teigporen ein.

Vor den Kioskklos verlängert sich seit Stunden eine Töchter- und Mütterschlange. Barsch verlangt eine Person Klopapier von den Kioskleuten. Die herausfordernde Art stößt auf Ablehnung.

Einar kreuzt auf. Am Tisch seiner Wahl rückt man bereitwillig auf. Routiniert zieht er eine Flasche aus seinem Rucksack. Die Frau neben ihm kratzt einen Butterrest vom Boden einer Dose. Die Leute bringen alles Mögliche mit zum Spielplatz und zu den Bänken für die Erwachsenen, die Frau hat sogar eine Tischdecke mitgebracht. Mit ihren Butterfingern streicht sie die Decke glatt. Cameron will wissen, wann Britta zuletzt mit ihm im Bett war. Britta hat das Datum parat, gibt es aber nicht zu.

„Was soll das?“ fragt sie stattdessen, obwohl Britta genau weiß, was das soll und es ihr genauso geht. Entweder greifen Britta und Cameron bald einmal wieder aufeinander (als grundsätzlich doch immer noch bewährtes Paar) zurück oder es geschieht das Gleiche mit anderen.

„Revolution ist wieder zu einem astrologischen Begriff geworden“, klagt Volker Braun. Er sieht sich mit dem Rücken zur Zukunft, „starrend in die Grabkammer, in der wir leben wollten“.

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„Die allumfassende Ansprechbarkeit der Welt scheint sich durch lockere pantheistische Vorannahmen auf wunderbare Weise rationalisieren zu lassen.“ Monika Rinck

Die Werkstatt steckt wie eine Schublade in der Brücke. Muttern groß wie Radkappen und Werkzeug im Ankerketten-Format erzählen das Industriezeitalter zu Ende. Eiserne Klammern enden als rostige Riegel. Die alten Gewissheiten des Kalten Kriegs sind Makulatur.   

Nachts wird die Werkstatt bespielt. Eine Lichtkünstlerin veranstaltet Budenzauber mit der Patina einer gründerzeitlichen Strahlensause und den Geisterbahn-Alarmsignalen eines Selbstverstrahlungsexzesses. Die nach ihrem Entdecker sogenannten Röntgenstrahlen befeuerten um 1895 eine Wissenschafts- und Fortschrittseuphorie. Betuchte zelebrierten einschlägige Séancen als gesellschaftliche Spuk-Ereignisse. Die ersten Röntgenapparate gingen als Party Pusher an private Haushalte. Bürgerinnen ergötzten sich an ihrer Anatomie. Fröhlich setzten sie sich der tödlichen Strahlung aus.

Schlagartig sehen sich Britta und Einar nicht mehr mit den trüben Augen der Gewohnheit

Das Spektakel funktioniert als Weichmacher sämtlicher Reserven. Plötzlich liegen sich Britta und Einar in den Armen, einerseits angenehm vertraut, andererseits frisch verliebt. Beide genießen die gegenseitige Wertschätzung ihrer Körper. Vorbei die Zeit, als sie vom Alltag abgenutzt waren. Unbrauchbar beinah für guten Sex.

„Sie wünschte, sie wäre nackt, jemand würde ihre Brüste berühren. Sie ... möchte ein stilles, animalisches Gegenüber ertasten. Sie will nur begehrt werden.“ Leïla Slimani, „All das zu verlieren“

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„Wenn man über Menschen unter Dreißig schreibt, dann schreibt man über ein Sozialverhalten wie bei den Bonobos. Wie sie miteinander reden und wie sie miteinander schlafen, das ist ein Kontinuum.“ Nelly Zink

So hoch im Kurs zu stehen, sorgt bei Einar für eine ratlose Erektion. Britta fühlt sich angenehm berührt. Gemeinsam kehren sie dahin zurück, wo sie nie zuvor waren. Sie lieben Marginalien der Handfestigkeit sowie unauffällige Verschiebungen der Valeurs; das Kleingedruckte eminenter Vorgänge.

„Habt ihr kein Zuhause?“ fragt eine. „Seid ihr ein illegales Paar?“

Britta und Einar erkennen sofort den spielmateriellen Wert der Fragen. Die Erweiterung heben sie sich für später auf. Gehen sie jetzt zu mir oder zu dir?