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2023-02-23 13:23:33, Jamal

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„Ich beobachtete auf europäischen Konferenzen, wie deutsche Teilnehmer den ostmitteleuropäischen Vertretern vom Hochsitz der moralischen Erhabenheit erklärten, wie man mit Russland umzugehen habe.“ Michael Thumann

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„Putin kann den Krieg mit einem Wort beenden.“ Joe Biden

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„Putin könnte jeden Kriegsausgang als Sieg verkaufen.“ Michail Chodorkowski in einem Standard-Interview mit Fabian Sommavilla,  Quelle

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“A year ago, on the same days, Zelensky and I spoke on the phone. He said he heard explosions - I won’t forget that; I thought that Kyiv would not survive, like Ukraine. But a year later Kyiv endured, democracy endured, and the world endured; We have created a coalition around the world: NATO, Japan, the Pacific region, about 50 countries in total; Putin thought he would outlive us. I don’t think he still thinks so. God alone knows what he's thinking now. He was simply wrong; The Russian economy is now isolated and in trouble.” Joe Biden am 20.02. 2023 in Kiew

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„Es möge vermessen klingen, sagt der amerikanische Oberbefehlshaber am Montagmorgen im Kiewer Präsidentenpalast zu Selenskyj, ‚aber schon am ersten Tag des Angriffs hielt ich es für wichtig, dass der Präsident der Vereinigten Staaten hierherkommt‘“. Aus der FAZ vom 20.02. 2023, Quelle

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„(Putin) greift den Lebensstil Europas an, seine Sicherheit und seine wirtschaftlichen Lebensgrundlagen.“ Michael Thumann

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Dmitrij Medwedew offenbarte „die russische Sicht auf Europas Zivilisation, als er den Balten und letztlich allen Europäern (zurief): ‚Dass ihr in Freiheit seid, ist nicht euer Verdienst, sondern unser Versäumnis‘.“  Zitiert aus Michael Thumanns Alarmanalyse „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“

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„Unter Wladimir Putin verabschiedet sich Russland, das eigentlich größte europäische Land, aus Europa. Erneut senkt sich ein Eiserner Vorhang quer durch den Kontinent. Reise ich in dieses Land, werde ich am Flughafen in aller Regel aufgehalten. Der Grenzbeamte hält meinen Pass fest und telefoniert lange mit seinen Vorgesetzten. Ein Mensch im dunklen Anzug, wahrscheinlich Geheimdienst, holt mich ab und führt mich in einen Kellerraum. Darin ein Schreibtisch, eine alte Matratze mit Sprungfedern, kaputte Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fragen beantworten: Wo wohnen sie? Was denken sie über die Militäroperation? Was haben sie vor in Russland? Ich antworte knapp und frage mich selbst: Komme ich überhaupt noch in das Land? Und komme ich wieder heraus?“ Michael Thumann   

Radikaler Nationalismus - Eine Vorbemerkung

Als die Ukraine am 24. Februar angegriffen wurde, hielten viele das Weitere für eine Frage von achtundvierzig Stunden. Im antiquierten Geist des Blockdenkens war Russland - als Erbin der auseinandergebrochenen Sowjetunion - die Zentralgewalt und die Ukraine bloß ein Satellitenstaat mit schlecht befestigten Souveränitätsansprüchen. Zu Recht hielt der Historiker Timothy Snyder der nicht allein diskreditierenden, vielmehr den Westen entlastenden Erzählung von der Ukraine als einem russischen Satelliten entgegen: „Die Ukraine muss am 23. Februar 2022 als Gesellschaft und Gemeinwesen existiert haben, sonst hätten die Ukrainer der russischen Invasion am nächsten Tag nicht kollektiv Widerstand geleistet.“ NZZ, Quelle

Putin setzt seine populistisch bewimpelte, von Abstimmungen beinah unbeschwerte Agenda nicht als Getriebener, sondern als Missionar durch. Bis zum „Scheitern des Blitzkrieges“ (Galia Ackerman/Stéphane Courtois, „Schwarzbuch Putin“) in der Ukraine war der russische Präsident kaum je auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Er appelliert nun „im Namen eines mystifizierten Vaterlandes und einer glorifizierten Armee“ (Ackerman/Courtois).

Putin verfolgt eine Traditionslinie in „Rekurse(n) auf Stalin, die Zaren des 19. Jahrhunderts, Peter dem Großen und Iwan dem Schrecklichen“ (Ackerman/ Courtois). Er argumentiert mit einer tausendjährigen Reichshistorie und einer russischen Welt, die nur vorübergehend als Sowjetunion firmierte, indes ewig ist in ihren weit gesteckten Grenzen.

„Putins Streben nach Macht ist globaler Natur“, behauptet Nicolas Tenzer in seinem Aufsatz „Putin und die Offensive an der Peripherie“. Der Homme de lettres weist auf einen interessanten Punkt hin. Putins Russland ist „nicht mehr mit einem derart entschlossenen Feind konfrontiert … wie es die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zu Zeiten des Kalten Kriegs gewesen (sind)“. Putin rollt das Feld von den Rändern auf. Eskalationsszenarien verfehlen folglich die Lage.

Zu Michael Thumanns Analyse „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“, 287 Seiten, C.H. Beck, 25,-

Putin repräsentiert einen neuen epochemachenden „radikalen Nationalismus“. Thumann widerspricht jenen, die behaupten, Russlands Regression entspränge Reaktionen auf westliche Interventionen im Zuge der NATO-Osterweiterung. Gewiss geht so ein Generalirrtum der westlichen „Kreml-Exegese“ (Claus Leggewie). Thumann erkennt in Putins Position „die Fortsetzung einer kolonialen, imperialen und sowjetischen Tradition, einer prekären geschichtlichen Ungestalt, die von innen kommt“.

„Der Putinismus hat den systemischen Sadismus des Stalinismus übernommen.“ Igor Jakowenko 

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„Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ Walter Benjamin

Putin erlebte den Untergang der Sowjetunion als nationales Desaster. Der Aufbruch von Neunundachtzig war für den KGB-Agenten eine Niederlage im Kalten Krieg. Die Konditionen der postkommunistischen Frühphase beschreibt Putin mit Schlüsselbegriffen aus dem revanchistischen Diktatfrieden-Vokabular militanter Kritiker:innen des Vertrags von Versailles.

Sein Geschichtsrevisionismus macht Putin zum großen Gegenerzähler. Die westliche Perspektive auf die Entzauberung des Warschauer Pakts geht von einer historischen Konsequenz aus, die Putin wie ein Kaugummi in die Länge zieht. In der Verlängerung triumphieren die aus Schaden klug gewordenen Verlierer:innen über die 89er-Sieger:innen.

Gute Beziehungen um jeden Preis

Das, so Thumann, sei von deutschen Führungskräften geflissentlich übersehen worden.

„Ich gewann … den Eindruck, dass viele deutsche Politiker und Manager wollten, dass es mit Putin klappe, koste es, was es wolle.“

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Für Russ:innen war das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende vielleicht sogar schwerer als die unmittelbare Nachkriegszeit. Es wurde gestorben „wie in einem offenen Krieg“.

„Man schätzt, dass allein in Russland zwischen 1989 und 1995 1,3 bis 1,7 Millionen Menschen vorzeitig starben.“ Vor allem Menschen mittleren Alters erlagen „psychischem Stress“ in Prozessen, die das Überkommene finalisierten. Zitate aus Ivan Krastev/Stephen Holmes, „Das Licht, das erlosch“

Thumann zeichnet ein anderes Bild. Er beschwört eine postsowjetische Freiheit. Als Gewährsperson dient dem Chronisten die Ärztin Assja Kudrjawzewa. Sie erlebte den Fall des Eisernen Vorhangs gutgelaunt-prekär in ihren Zwanzigern.

„‚Wenn sie heute im Fernsehen dauernd Gorbatschow und Jelzin schlechtmachen‘, sagt … (Assja) über den letzten sowjetischen KP-Sekretär und Russlands ersten Präsidenten, ‚dann denke ich immer: Warum eigentlich? Für mich war die Epoche Jelzins eine richtig gute Zeit‘.“

Putin war zu keinem Zeitpunkt bereit, die westliche Lesart von Demokratie zu übernehmen. Für ihn liegt im Westen nicht die Freiheit, sondern das falsche Leben, das er mit dem Liberalismus identifiziert. Gemeinsam mit vielen Russ:innen betrauert er den Zerfall der Sowjetunion bis auf den heutigen Tag.

„Das Ende der UdSSR (ist für ihn) die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“

Nach Putins geostrategischen Begriffen verblenden die Verfechter:innen des westlichen Demokratiemodells ihren Expansionsdrang mit Moralgipsgirlanden.

Thumann konstatiert, das deutsche Politiker:innen „Russland als Gegengewicht zu ‚US-Imperialismus‘ und ‚Wall-Street-Kapitalismus‘, zu Nato-Osterweiterung und Liberalismus“ nicht erst seit gestern schätzen. Er erinnert an die - aus gesamteuropäischer Perspektive fatalen - Folgen des Vertrags von Rapallo und erkennt im „Bau der Nord-Stream-2-Pipline (eine) … Wiederholung der Geschichte als Farce*“.

„Der Rapallo-Vertrag wurde in den folgenden Jahren zur diplomatischen Hülle für eine Reihe von Geheimabmachungen … Es war schließlich Schröder, der die traditionelle deutsch-russische Zusammenarbeit auf Kosten Ostmitteleuropas fortsetzte.“

*Die Geschichte wiederholt sich im Pendelschlag zwischen Tragödie und Farce

Hegel bemerkt irgendwo, „dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen … (Hinzuzufügen vergaß er): das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Karl Marx, zitiert nach Wikipedia

Aus der Ankündigung

Kaum einer kennt Russland besser als Michael Thumann, der seit über 25 Jahren aus Osteuropa für die ZEIT berichtet. Er legt nun ein atemberaubend geschriebenes Buch vor, das Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nachzeichnet. Das Motiv des Diktators und seiner Getreuen: Revanche zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991 und die vermeintliche Demütigung durch den Westen. Putins Herrschaft radikalisiert sich weiter. Es ist das bedrohlichste Regime der Welt.

Zum Autor

Michael Thumann ist Außenpolitischer Korrespondent der ZEIT und lebt in Moskau. Seit den 1990er Jahren berichtet er für die ZEIT aus Russland, Osteuropa und dem Nahen Osten. Seine Artikel, Podcasts und Bücher über Russland als Vielvölkerstaat und den neuen Nationalismus Putins haben unseren Blick auf dieses Land erweitert. Russland kennt er schon aus Studienzeiten, als er unter anderem an der Moskauer Lomonossow-Universität studierte.