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2023-02-02 10:22:19, Jamal

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“Just last week, I murdered a rock, Injured a stone, Hospitalized a brick. I’m so mean, I make medicine sick. I’m so fast, man, I can run through a hurricane and don’t get wet … I can … kill a dead tree.“ Muhammad Ali, Quelle

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„Einige Szenen seiner großen Theaterstücke lese ich mit wahrer Liebe und Bewunderung, dann aber komme ich auf Verstöße gegen die Wahrheit der Natur, und ich kann nicht weiter.“ Goethe gegen Schiller; überliefert von Johann Peter Eckermann

© Jamal Tuschick

Die zielbewusste Ausbeutung eines Affekts

In seiner 1904 erstmals publizierten „Psychopathologie des Alltagslebens“ überliefert Sigmund Freud ein Beispiel für „die zielbewusste Ausbeutung eines Affekts, um eine an sich uninteressante Muskelarbeit mit Lustgefühlen zu laden“.

Freud schlägt um die kleine Geschichte einen großen Bogen. Zuerst erklärt er, dass er die Mitteilungen eines Doktor L. Czeszer mit geringen Auslassungen verwendet. Jener berichtete Freud von dem „Versprechen“ eines Professors. Czeszer beleuchtet zunächst ein akademisches Milieu in der französischen Schweiz, das einen zum Zeitpunkt der Niederschrift brandneu betitelten Standpunkt teilt. Czeszer beschreibt seine Umgebung als „ententefreundlich“. Die Entente cordiale bezeichnete ein im Frühjahr 1904 von Frankreich und Großbritannien ratifiziertes Abkommen. Es ging um zivile Einigungen in kolonialen Interessenkollisionen.

Schon damals kursierten die Deutschen als boche. Der Lehrstuhlinhaber kolportierte auf Französisch eine massenhaft verbreitete Schote von einem deutschen Schulmeister, der seine Schüler:innen zur Gartenarbeit anhielt. „Um (sich) … anzufeuern … (sollten sie sich vorstellen,) dass sie statt jeder Erdscholle einen französischen Schädel einschlügen“.   

Ich schenke mir den professoralen, vom Auditorium als „beabsichtigten Wortwitz“ goutierend aufgefassten Versprecher, um den Irrsinn nicht in Ziselierungen zu ornamentieren. Czeszer war es darum zu tun, Freud in der Annahme zu bestärken, dass es „zwischen dem Versprechen und dem Witz … tiefe Analogien“ gibt.

Genetische Wurzel

Sämtliche Reaktionen des Körpers haben eine genetische Wurzel, die Milliarden Jahre zurückreicht. Sobald wir die thermoneutrale Zone verlassen, dreht sich alles um die Wiederherstellung der Homöostase. Interessant ist, dass die stärksten Ausschläge am unteren Ende der Temperaturskala stattfinden. Kälte ist der Schlüssel. Rainer Zumwinkel brachte seinen eigenen Polarkreis mit. Er war siebenunddreißig, in meinen Augen ein alter Mann. Die Überheblichkeit eines Herangewachsenen riet mir, ihn wegen seiner grauen Haare für ausgebrannt zu halten.

Zumwinkel verschleppte die Begrüßung. Erst mal irritieren. Ich kannte das Programm, Holger gestattete seinen Debütant:innen höchstens einmal im Jahr etwas Umgängliches auf der Basis von Normalfloskeln. Im Übrigen fand er kein Ende mit dem Irritationstraining. Der gegenstandslose Übergriff war die Königsdisziplin.

Wie fixiert man jemanden, ohne auch nur in seine Richtung zu gucken? Wie suggeriert man jemanden, man läge auf seinen Schultern und schände seine Intimzone, während man nachweislich die gesellschaftliche Distanz wahrt.

Ich konnte das alles schon mit zwölf. In Holgers Orientierungslaufgruppe sah ich als Einziger den Nutzen immaterieller Manipulationen ein. Mit fünfzehn diskutierte ich mit mir die Frage, ob es eine moralische Limitierung der psychologischen Penetration gibt. Ich hatte schon Busfahrern so zugesetzt, dass sie kurz vor dem totalen Kontrollkollaps gewesen waren, und dann beobachtet, wie sie sich selbst wieder zurechtgaloppierten. Ich erkannte, dass ihr Bewusstsein die Fehlermeldung zurückhielt. Sie vergaßen ihr Versagen.

Darauf kann man bauen, behauptete Holger.  

Er war mein Kunst- und Sportlehrer. Er war so vieles. Agitprop-Künstler mit einem Rochus auf die Documenta-Macher:innen, die es wagten, ihn zu ignorieren, Juso-Vorsitzender, Kraftdreikampf-Hessenmeister und eben auch unser Orientierungslaufgruppenleiter. Ihm gefiel die schlichte Gnadenlosigkeit marschierender Rhythmen und Reime. Holger Miles war aus klingendem Schlichtholz geschnitten. Sein Nachname bezeichnet ein Längenmaß und einen bewaffneten Fußgänger. Bei Vollversammlungen legte sich Holger mit der Schulleitung an. Er kannte keine Berührungsängste. Er sprach mit den K-Gruppenführer:innen, obwohl sie der SPD ständig Schwierigkeiten machten. Er wirkte supermoderat, fast schon krankhaft freundlich, aber sobald er uns für sich hatte, ging es nur um Orientierung. Finde erst einmal nachts einen zusammengebrochenen Hochsitz in der Nähe des vor Jahrzehnten versiegelten Stellbergstollenmundlochs auf der Basis von drei Informationen.

Ein Gegner, der seine Absichten verrät, ist keiner, erklärte Holger.

Ich referiere den Standardtext. Ich habe mal ein abgegriffenes Handbuch gesehen, da stand unter der markant-unbeholfenen Überschrift Judo des Geistes vermutlich das alles drin.

Von Holger war der Auftrag gekommen, mich bei Zumwinkel zu melden. Zumwinkel taxierte mich und fintierte gemächlich gegen das Phantom in einem Raum, der wie eine Arztpraxis aussah. Doch bewies nichts auch nur den verschwiegenen Publikumsverkehr auf Privatpatientenschleichwegen. Seit Holger mit der Behauptung hausieren ging, er habe noch keinen so begabten jungen Mann wie mich geschult, begegnete ich seltsamen Gestalten. Trotzdem ich mit ihm allein war, spottete Zumwinkel:

„Das also ist unser Wunderknabe.“

Ich war daran gewöhnt, von Wenigen über den grünen Klee gelobt zu werden. Das hielt die meisten nicht davon ab, mich für einen Idioten zu halten. Zweifellos hatten sie Recht. Ich war ein Idiot mit Fähigkeiten. Ein Fachidiot. Das sagt heute auch keiner mehr.

Doch wer war Zumwinkel? Dazu bald mehr.