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2023-01-19 08:22:14, Jamal

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© Jamal Tuschick

Hessenmeister

Die Lage der Residenz- und Hauptstadt des Kurfürstentums Hessen ist vortrefflich. Ein Autor überliefert: „Die Schönheit ihrer neueren Theile, die Seltenheiten, die sie enthalten und ihre reizenden Umgebungen (machen sie) zu einem Gegenstande der Aufmerksamkeit aller Reisenden.“

Aus einem „weiten Thale erhebt sich eine Anhöhe, welche der Fuldafluss durchschlängelt“. Über den Fluss führt eine 273 Fuß lange und 42 Fuß breite Steinbrücke auf drei Bögen. Sie wurde in den Jahren 1788 bis 1794 erbaut und nach dem höchstseeligen Kurfürsten Wilhelm benannt. Ich darf nicht unerwähnt lassen, dass unsere Altstadt stark befestigt einst war. Ich selbst riet Landgraf Friedrich zum schleifenden Abtrag der Mauern. So geschah es in der Zeit von 1767 bis 1774. Wir brauchten Raum für Verschönerungen. Unsere Stadt sollte schöner werden.

Im Wettbewerb der Residenzen erreicht Cassel jederzeit einen guten Platz. Eine 18 Fuß hohe Mauer schließt die urbane Pracht ein. Nur an der oberneustädtischen Südostseite sparten wir Stein, der schönen Aussicht willen. Siehe Bellevue.

Die Casseler Altstadt liegt zwischen Oberneu- und Unterneustadt, die Fulda sondert sie ab. Unsere Altstadt ist nichts weniger als schön, da sie wie alle alten Städte krumme und enge Straßen hat. Die Holzhäuser dienen als Beispiele schlechter Bauart. Vereinzelt entdeckt man steinerne, in einem besseren Styl gebaute Häuser. Sie zeichnen sich vorteilhaft ab vom Ensemble und hätten es verdient an vorzüglicher Stelle zu stehen.

Das Quartier hat im Ganzen neun freie Plätze und einundfünfzig Straßen. Ich erklärt das meinen Studierenden auf dem Marktplatz, der zur Fulda liegt. Das Altstädter Rathaus und der neue Stadtbau erwarten die Neugier der Elevinnen. Die vornehmen Personen genießen den Ausflug in die Unterschicht mit parfümierten Taschentüchern vor der Nase. Sie werden sonst fern vom Volk gehalten.

Natürlich bestaunt das Pack die Manieren des adligen Nachwuchses. All die buckligen Marktbeschickerinnen mit ihren tellerminengroßen Warzen auf den hervorragenden Zinken. Die drangsalierten Rotkäppchen und buschigen Selleriehändlerinnen. Die ungewaschenen Rumpelstilzchen aller Couleur. 

Die flügellahmen Schwäne, die behaupten, Prinzessinnen zu sein, und Schwälmer Schweinehüterinnen in Tracht. Sie alle sabbern vor Verwunderung angesichts unserer Debütantinnen. 

Topografische Angaben aus „Cassel und die umliegende Gegend - Eine Skizze für Reisende“, Cassel 1825 in der Kriegerschen Buchhandlung

*

Cassel im 19. Jahrhundert. Reiseführer und Regierungsräte sprachen von den drei Städten.

1) Der Altstadt

2) Der Unterneustadt (am rechten Ufer der Fulda)

3) Der Oberneustadt (auf der Anhöhe)

Man zählte acht Tore (Thore).

1) Das Friedrichsthor (südostwärts)

2) Das Frankfurterthor (südwärts)

3) Das Wilhelmshöherthor (südwestwärts)

4) Das Königsthor (westwärts)

5) Das Köllnische Thor (nordwestwärts)

6) Das Holländische Thor (westwärts)

7) Das Weserthor (nordostwärts)

8) Das Leipziger Thor (ostwärts)

Alle Straßen und Plätze der landgräflichen und kurfürstlichen Residenz (in verschwiegenen Quellen geschildert als „Straßen und Plätze der drei Städte“) werden von August bis April bei Nacht erleuchtet, die Hauptstraßen der Altstadt von mehr als hundert Réverbères. In Nebenstraßen brennen 778 Laternen. „Eine beträchtliche Zahl“ argantischer Lampen (nach Aimé Argand) illuminiert die Umgebung des kurfürstlichen Palais. In nächster Nähe liegt die japanische Botschaft. Zu den heimlichen Späßen aristokratischer Sprösslinge gehören Beobachtungen des Diplomaten Sanada bei seinen Schwertkampfexerzitien im Garten der Botschaft. Es kursiert das Gerücht, die zu ihrer Erziehung in der Residenz weilende Prinzessin Hannelore vom Harz habe sich einmal als Göttinger Burschenschaftler ausgegeben, um Zugang zu erhalten und etwas Air und Aura von Sanadas Savoir-vivre zu erhaschen.

Wir haben uns den Japaner zum Freund gemacht, die Leidenschaft für Hieb-, Stich- und Schusswaffen flicht das Band jeden Tag neu. Sanada inspirierte eine Geschäftsidee, die in Hessen nicht zündete. Ich spreche in den nächsten Tagen einmal wieder über unsere Maulbeer- und Seidenraupenplantagen. Es gibt einen einheimischen Affekt gegen solche Zucht, dagegen scheint kein Kraut gewachsen.

Als Geheimer Staatsrath bin ich stets auf dem Laufenden. In der Altstadt stehen 1183 Häuser, in der Unterneustadt 209, und in der Oberneustadt 168. Das macht 1560 Häuser im Ganzen. Dazu rechnen wir einiges aus der Wilhelmshöher und Leipziger Vorstadt. Bevölkert wird Cassel (Kassel) von dreiundzwanzigtausend Seelen, zieht man die Garnison in Betracht.

Der Gouvernements-Palast imponiert zwischen Martinskirche und Hauptwache vor einem Platz, der nach dem Willen des Kurfürsten ständig in formidablem Zustand gehalten wird. Der Bau bietet Arbeit und Wohnung dem Gouverneur von Cassel. Ihm unterstehen mit beträchtlichen Aufgaben und leidenschaftlicher Hingabe fast alle meine männlichen Verwandten, sofern sie erwachsen sind.  

Abends spazieren die Bessergestellten zum Marstall-Platz. Die Nordseite einer Baustelle begrenzt das Areal. Da entsteht die Kattenburg als neues kurfürstliches Schloss. Wir visitieren die Krämerhalle beim Marstall mit ihren einander anhängenden Zirkelbögen. Frau Holle bedient beileibe uns gern persönlich. Schneewittchen pogt mit ihren sieben Zwergen. Aschenputtel macht ihre Moves. Leidende Erlöserinnen grooven mit den Verdammten, die nach Verwandlung schreien. 

Nun folgen wir der Großen Johannisstraße vom Gouvernements-Platz zum Markt. Ferner ergibt sich zum 540 Fuß breiten und 530 Fuß tiefen Exerzierplatz unserer kurfürstlichen Infanterie ein Spaziergang.  

Ich will die vornehmsten Straßen der Altstadt nennen. Da ist die Fürstenstraße, vom Schloss kommend als Magistrale, die Schlossstraße, im gemeinen Leben verrufen als „der Graben“, die Große (und schicke) Elisabetherstraße, die zum Hofhospital hinführt, die St. Martinsstraße, im Volksmund „Obere Gasse“, so wie die St. Dionysienstraße, berühmt wegen des ersten Großkaufhauses Europas.

Eine Fremde findet alles leicht, da jeder Straßenname an einem Eckhaus angeschrieben steht.

Die Namen der geringeren Straßen gebe ich morgen bekannt.