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2023-01-16 08:01:54, Jamal

„Sie (Männer) halten uns (Frauen) als Sklaven, und sie tun’s mit Recht/Denn wär’n wir frei, erging es ihnen schlecht.“ Sarah Fyge Egerton 1703

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Entstellt genesen

Im Rahmen der Westfälischen Friedensordnung von 1648 ergab sich ein „konfessioneller Pluralismus“. Bis dahin hatten sich die Katholiken auf dem Weg zur absoluten Restauration und die Protestanten auf dem Weg zur weltweit durchgreifenden Reformation gesehen. Danach wirkten andere Konfliktmotive dynamischer. Der Historiker Tim Blanning nennt die Indikatoren für eine Aufwärtsentwicklung: Handel, Produktion - und Bevölkerungswachstum. Diese Progression hing wesentlich von einer tief gestaffelten medizinischen Versorgung ab. Blanning skizziert den zivilisatorischen Prozess der Heilvor- und -fürsorge am Beispiel der Pocken. 1715 erkrankte Lady Mary Wortley Montagu (1689 - 1762) an den Pocken. Sie genas entstellt. Dem Verlust ihrer Schönheit widmete sie ein Gedicht.

„Ach, wie wurd ich denn/Ein schaurig‘ Gespenst, mir selber fremd.“

Die lyrische Bewältigung fiel in der Ära von Georg I. Der Hannoveraner auf dem englischen Thron, seines Zeichens auch Herzog von Braunschweig-Lüneburg, schickte Sir Montagu als Konsul nach Konstantinopel. Die Gezeichnete begleitete den Gatten. Am Bosporus beobachtete sie eine ländliche Praxis der Immunisierung gegen die Pocken. „Gewisse alte Weiber machen sich ein Geschäft daraus“, Familien in der einfachsten Weise zu impfen, indem sie ihre Patientinnen und Patienten mit geringen Dosen des Erregers infizierten.

Tim Blanning, „Glanz und Größe - Der Aufbruch Europas 1648 - 1815“, aus dem Englischen von Richard Barth, Jörn Pinnow, DVA, 49,-

1721 ließ Lady Montagu ihre Tochter „inoculieren“ und avancierte so zum Vorbild für den Prinzen von Wales, der bei sich und seinen Nachkommen eine „Variolation“ gestattete. Das Volk folgte der aristokratischen Avantgarde verzögert. „Napoleon ließ eine ganze Armee impfen“, und zwar mit Kuhpocken. Den Titel zum Thema lieferte der in der Grafschaft Gloucestershire wirkende Landarzt Edward Jenner 1798 -„Untersuchungen über die Ursachen und Wirkungen von Kuhpocken - An inquiry into the causes and effects of the Variolae Vaccinae“. „Jenner erkannte, dass Personen, die sich mit den Kuhpocken infiziert hatten (z.B. Melkerinnen), fast nie an den eigentlichen Pocken erkrankten.“ Quelle

Diese Erfolgsgeschichte konkurrierte mit abergläubischen Heilverfahren. Bei jeder Gelegenheit wurde man zur Ader gelassen. Banning erwähnt die „standhafte“ Madame de Sévigné . Sie vermied Ärzte und kurierte sich mit Bewegung. Nebenbei schrieb sie ihrer Tochter 1700 Briefe. Auch Thomas Hobbes vertraute in erster Linie dem „Rat einer erfahrenen alten Frau, die am Bett zahlreicher Kranker“ gesessen hatte. Die überwältigende Mehrheit konsultierte neben dem „hauseigenen Fundus“ und seinen Hüterinnen und Hütern, den Pfarrer, den Schmied, die Gutsherrin, eine Wahrsagerin oder eine „geborene … mit einer Glückshaube zur Welt gekommene“ Heilerin. Die Aufzählung wäre nicht vollständig ohne die Erwähnung von Hausiererinnen und Quacksalberinnen. Apothekerinnen und Bader spekulierten über schwarze und gelbe Galle. Sie setzten Blutegel an, und rieten zur „Rotkur“, bei der die Patientin rot gekleidet, in einem mit roten Gardinen verhängten Bett kuriert wurde.

Pflanzenheilkunde bestimmte die Hausmittel. Ihre konkurrenzlose Effizienz belegt der Umstand, dass Patientinnen und Patienten im Jahr 1815, Blanning wählt das Datum, grundsätzlich auf keine besseren Bedingungen hoffen durften als ihre Vorfahren im 16. Jahrhundert. Der Fortschritt stagnierte auf dem Niveau der „Viersäftelehre“.

Während die einen salbaderten, stellten andere bereits klinische Diagnosen. Zentrum des medizinischen Fortschritts war die niederländische Universität Leiden. Besonders hervor tat sich Herman Boerhaave (1668 - 1738). Stätten der Verwissenschaftlichung waren Edinburgh, Halle, Göttingen, Jena, Erfurt, Straßburg, Wien, Pavia, Prag und Pest. Der Altruismus potenter Gönnerinnen und Gönner richtete sich auf den Bau von Krankenhäusern, die in jedem Fall der Forschung dienten. 1745 „spalteten sich die Chirurgen von Barbieren ab … (Sie) schlossen sich zur Company of Surgeons* zusammen“. 

*“It was Thomas Vicary, surgeon to Henry VIII, who urged his master to introduce the proper regulation of surgeons practising in the City of London, and in 1540 the Company of Barber Surgeons was founded.” Quelle

Armut als medizinisches Problem

1685 machte Ludwig XIV. Schluss mit dem Protestantismus in Frankreich. Er schuf die reformierte Kirche ab und kurbelte so die Wirtschaft in den Nachbarländern an. Landgraf Carl von Hessen-Kassel (1654 - 1730) rieb sich die Hände, er gewährte Hugenotten Siedlungsfreiheit. Geflüchtete bauten die Kasseler Oberneustadt. Sie revanchierten sich, indem sie in der Residenzstadt den Merkantilismus modellhaft auf die Spitze trieben.

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Der Siebenjährige Krieg (1756 - 1763) zog Schneisen wie ein Holzvollernter. Die Entwurzelten fanden zu den Gewissheiten und Orten ihrer Herkunft nicht mehr zurück. Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel erkannte im Leiden seines Volkes einen Ursprung des wissenschaftlichen Fortschritts. Armut hielt er für ein medizinisches Problem.

Soldaten wurden zu Invaliden und Vagabunden, ein Tross von Witwen und Waisen lebte prekär. Groß war die Zahl unehelicher Kinder. Deren Versorgung war nicht geregelt. Jedes Jahr fanden Hinrichtungen von Kindsmörderinnen statt. Ein Nachkomme hugenottischer Emigrant:innen brachte den Missstand als erweiterten Schwangerschaftsabbruch in die Literatur. Mit seiner Denkschrift folgte er einer fürstlichen Aufforderung. Friedrich war der einzige Katholik auf dem kurhessischen Thron seit der Reformation. Er hätte die Hugenotten nicht ins Land gelassen, der Fortschritt wäre an ihm vorbeigezogen. Stärker als am Schicksal seiner Untertan:innen war Friedrich an Überlegungen des Gelehrten zum (ganz bei der Krone ankernden) ius representationis omnimodae interessiert. Die Zukunft griff die fürstliche Allmacht listig mit aufklärenden Begriffen an. Ein Zauberwort lautete auswärtige Gewalt. Alfred Hänel (1833 - 1918), ein Mann der Deutschen Fortschrittspartei, griff das Thema im 19. Jahrhundert auf.

Zuerst isolierte John Locke die auswärtige Gewalt (zumal als Gewalt über Krieg und Frieden) wenigstens in der Betrachtung von sämtlichen Staatstätigkeiten zu einer Zeit, da man jedwedes staatliches Geltungsstreben natürlich fand. Beleuchtet wurde das Postulat der grundsatzlosen Zweckmäßigkeit (als einziger Konstante außenpolitischer Entscheidungen). Jeder Souverän achtete vertragliche Bindungen nur so lange, als er sie nicht genuinen Interessen zuwiderlaufend betrachten musste. Die brüchigen Beziehungen waren familiär. In Europas hohen Häuser kam vieles aus verwandtem Schoss.

Völkerrechtliche Verträge unterschieden sich immer noch grundsätzlich von allen anderen gesellschaftlichen Verabredungen. Oft hatte eine Partei als facta bruta hinzunehmen, was ihr rechtswidrig erschien. Nicht durchsetzen konnte sich eine Auffassung, nach der nur demokratisch legitimierte Regierungen anerkannt werden durften. Eine starke Position sagte, in der auswärtigen Gewalt sei die Demokratiemechanik zum Vorteil der Geheimdiplomatie gehemmt worden. 

Zum Autor

Tim Blanning war bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politik- und Kulturgeschichte Europas im 18. und 19. Jahrhundert (u.a. »Das Alte Europa 1660 – 1789«, 2006). Dabei widmet er sich auch immer wieder deutschen Themen wie in seiner gefeierten Biografie »Friedrich der Große« (2018), wofür er u.a. mit der British Academy Medal ausgezeichnet wurde. Zuletzt ist von ihm bei C. Bertelsmann erschienen »Triumph der Musik. Von Bach bis Bono« (2010).

Aus der Ankündigung

Tim Blannings Geschichte Europas erstreckt sich vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Wiener Kongress und zeichnet detailliert, höchst unterhaltsam und mit großer erzählerischer Kraft das Bild eines Zeitalters in tiefgreifendem Wandel - wirtschaftshistorisch, machtpolitisch, kulturell, militärisch. Neben großen Persönlichkeiten wie Louis XIV., Friedrich II., Napoleon, Voltaire oder Newton und den Eliten an Europas Höfen kommen immer wieder auch die Alltagssorgen und Nöte der niederen Stände in den Blick, die sich schließlich in der Französischen Revolution Bahn brechen sollten. Die Leichtigkeit, mit der Blanning die Perspektive zwischen den Kulturen wechselt, und die Fülle der verarbeiteten Fakten weisen den Autor als Meister seines Fachs und einen der bedeutendsten Historiker unserer Zeit aus.