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2022-12-18 09:16:23, Jamal

„Denn alles, womit sie das Leben erobern wollten, reichte bloß für einen schönen Tod aus.“ Georg Lukács über „die Tragödie der Romantik“

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Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier.

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„Dichten bedeutet, Gerichtstag zu halten über das eigene Ich.“ Henrik Ibsen, zitiert nach Hans Mayer 

„Zwischen ästhetischer Nostalgie und bürgerlicher Misere“ (Georg Lukács) 

„Mittelmäßig“ findet Hans Mayer die Ehemänner von Hedda Tesman und Madame Bovery. Jörgen T. und Charles B. rücken zusammen in „bourgeoiser Enge“. Mayer bezieht sich auf Lukács, der Flauberts spätwerkliches Alternieren zwischen Historismus und sansibaren Stimmungen als Ausfluss eines Desasters beschreibt, bei dem die Kunstschönheit da „aushalf, wo der Alltag unüberbietbar … klein wurde“.   

Hans Mayer, „Außenseiter“, Suhrkamp 

Europäisches Fieber 

Der Orient ist eine westliche Erfindung. Reisende des 19. Jahrhunderts spekulierten an der Börse ihrer Phantasie. Was auf sie wie Opium wirkte, war in Wahrheit ein europäisches Fieber. Die Orientsehnsucht war ein Aufstand gegen die sachlichen Väter. Jeder Klassik folgt eine Romantik, jedem Sturm und Drang ein Biedermeier.  

Napoleon III., bürgerlich Charles Louis Napoleon Bonaparte (1808 - 1873), belohnt schlecht dichtende Lobhudler und lässt Balzacs Schinken unter den Tisch des Freiverkäuflichen fallen. Flaubert und Baudelaire kriegen Ärger. Sie verkörpern die Moderne gegen eine kapriolende Restauration. 

Man ist vorsätzlich antiquiert. Flaubert bezeichnet den Nationaldichter Pierre-Jean de Béranger als „dreckigen Bourgeois“. Diana Céline, eine Urgroßnichte des Ungeheuers, unterstellt Flaubert auch einen Vorsprung in der Kunst des Obszönen, von der „in Zeiten von „Fifty Shades“ und „Feuchtgebiete“ kein Mensch mehr etwas verstünde. Die Literaturwissenschaftlerin entdeckt eine „raffinierte Anzüglichkeit“.  

Flaubert charakterisiert Emma B. als „Perverse“, die sich von einem schön gemalten Jesus affizieren lässt, aber auch auf Geld begeistert reagiert. Ein Prozess wegen des Verstoßes gegen die öffentliche Moral wird am 29. Januar 1857 eröffnet. Madame B. erscheint der Strafkamarilla „als Gefahr für junge Mädchen und Frauen“. Die in gerichtlichen Streit geratene Romanfigur habe „schon als Kind im Beichtstuhl … sinnliche Lust empfunden“. Der himmlische Bräutigam löste in ihr den Wunsch aus, vollständig erkannt zu werden. 

Susanne Stemmler bemerkt bei Flaubert eine „Obszönität des Sehens“, die sich in marodierenden Indiskretionen gegenüber Krankheitsbildern zum Beispiel beweist. Flaubert ignoriert Schranken, Zutrittsverbote, Burka-Botschaften. Ostentativ, wenn nicht wütend, setzt er sich über Beschränkungen hinweg, um seiner Beschreibungsmonomanie zu frönen. 

„Und das war alles. (Madame Bovery) existierte nicht mehr.“ Flauberts Fazit. 

Die Anklage findet Flauberts unpersönlichen Ton „lasziv“. Gott und Geld als Kulminationspunkte einer bloß materiell begriffenen Existenz: das ist revolutionär (gedacht). Flauberts Anfang (in bis zur Lächerlichkeit verbrauchten Verhältnissen) bildet auch schon den Höhepunkt.   

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Baudelaires Gesellschaftsdiagnosen etablieren neue Krankheitsbegriffe, die der Psychoanalyse voraneilen. Mediziner wie Jean-Martin Charcot werden sich bald auf Flaubert und Baudelaire stützen. Europa ist die Weltsonne, seine Reiche und Regierungen kennen keinen anderen Gegner als den Feind am Gartenzaun. Man hat sich zu wenig Mühe gegeben, dieses Phänomen einer matronenhaften Sonderrolle Europas zu analysieren. Ein halbes Dutzend Mutterländer unterhält auf allen Kontinenten Marionettenregimes. Die Kolonialmächte setzen Potentaten ein und ab.   

Flaubert verliebt sich in Kuchuk Hanem. Die ägyptische Tänzerin verkörpert für Flaubert das sexuelle Versprechen des Orients. Später korrigiert er sich.   

„Die orientalische Frau ist eine Maschine.“ 

Dies in Anspielung auf die pharaonische Beschneidung. Auch wenn der Pariser Standpunkt das Ungeziefer im Nahen Osten zu „goldenen Arabesken“ verklärt, bleiben Flaubert die Wanzen besser im Gedächtnis als Sandelholz und Rosenöl. Er kämpft mit der Ungereimtheit seiner Empfindungen.  

Eine „fast uniforme Assoziation zwischen Orient und Sex“ (Edward W. Said) im Verhältnis zu einer genital verstümmelten Frau: das ist die koloniale Perspektive par excellence.  

Mythischer Mord 

Selbstmord als - trotz des christlichen Tabubruchs - „versöhnlicher Abschluss“ bleibt eine den Männern vorbehaltene Lösung. Die Generalstochter Hedda „hingegen wird noch im Tode zum Skandal“.  

„Die mächtige Hedda wird (wie King Kong) nicht konfrontiert, ihr Wesen wird nicht erkannt - man weicht ihr aus, sie findet keinen Partner, der ihr standhält, und sie … (erschießt sich).“ Peter Zadek 

Mayer erkennt in Hedda Gabler eine Transformation der Frau mit Waffe. Sehen Sie dazu auch meinen Beitrag Die Frau mit Waffe. Ibsen synthetisiert, so Mayer, Judit von Betulia und Brunhilde in Hedda Gabler. Hedda „stirbt freiwillig, bewusst und ästhetisch einwandfrei“, im Stil eines mythischen Mords. Im Übrigen verwendet sie eine Pistole ihres Vaters. Sie setzt die Waffe im Geist des „väterlichen Überichs“ ein. Die Bewertung fällt so ungünstig wie nur möglich aus.  

„So etwas (Unschickliches) tut man doch nicht.“  

Aus der Ankündigung

Vom »Denkparadox« und der zugleich geschichtlichen Realität ausgehend, »daß die Anerkennung von Lebensrecht und Würde der existentiellen Außenseiter am besten in jener Ära gesichert war, da adlige Aufklärer unter dem Ancien Régime die bürgerlichen Forderungen vertraten«, entdeckt Mayer das Scheitern des Bürgertums im Versuch, das Unvereinbare zu verbinden: die Forderung nach Sicherung bourgeoiser Herrschaft mit der nach freier individueller Verwirklichung – wie außenseiterisch sich diese als existentiell veranlagte Normabweichung auch ausnehme. Richtet sich Mayers Blick vom historisch Erfahrenen auch wieder nach vorn, fordert er die Fortsetzung von »ihren bürgerlichen und geschichtlichen Ursprüngen abgelöster« Aufklärung als der »permanenten Revolution«, so doch in erklärter Gegenstellung zu einem abstrakt bemühten Utopismus allgemein-gesellschaftlicher Emphase, in der Hinwendung zum letztlich maßgebenden Bedürfnis und Anspruch des Einzelnen. Das Buch entwickelt seine Problematik beispielhaft und zentral an der Stellung bürgerlicher Gesellschaft und ihrer Literatur zur Frau, zu gleichgeschlechtlicher Liebe und Judentum. Es gelingt ihm deren darstellerische Bewältigung aus stupender Belesenheit und in methodischer Schmiegsamkeit.

Zum Autor

Der Wissenschaftler, Kulturkritiker und Schriftsteller wurde am 19. März 1907 in Köln geboren. Er studierte Jura, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und Berlin. Als Jude verfolgt, war er von 1933 bis 1945 in der Emigration in Frankreich und in der Schweiz. Von 1948 bis 1963 lehrte er Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig. Zwischen 1965 und 1973 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Technischen Universität Hannover. Danach lebte er als Honorarprofessor in Tübingen.

1935, im Exil, begann er mit den Vorarbeiten für sein großes Werk über Georg Büchner; ohne Zuspruch von Carl J. Burckhardt wäre das Opus magnum nicht beendet worden. 1972 erschien eine Neuausgabe im Suhrkamp Verlag. 40 Titel von ihm sind seitdem in »seinem« Verlag publiziert worden, darunter Bücher über Goethe und Brecht, Thomas Mann und Richard Wagner; der letzte in diesen Tagen: »Erinnerungen an Willy Brandt«. Bundeskanzler Schröder drückte darüber brieflich noch seine Hochachtung aus.

Hans Mayer war ein Lehrer für uns Deutsche. Ein Wissenschaftler, der mitten im Stalinismus Autoren wie Kafka, Proust, Joyce und Bloch verteidigte, der, wo immer in der Welt er lehrte, Literatur befragte, ob sie geeignet sei, Humanität zu befördern. Ein Gelehrter zwischen den Fronten, dessen wichtigste Werke nicht zufällig den Unbotmäßigen und »Außenseitern« gelten. Seine Erinnerungen waren Erinnerungen eines »Deutschen auf Widerruf«. Die Beschwörungen eines anderen Deutschland bereiteten neuen Kräften wie Uwe Johnson den Weg.

Hans Mayer ist Ehrenbürger der Städte Köln und Leipzig, Ehrendoktor der Universitäten in Brüssel, Wisconsin und Leipzig, Ehrenprofessor der Universität Peking, Träger des »Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland«.

Hans Mayer, Nestor der deutschen Literaturwissenschaft, starb am Sonnabend,
dem 19. Mai 2001, im Alter von 94 Jahren in Tübingen.