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2022-11-14 08:36:27, Jamal

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Die Enkel:innen der Pionier:innen

„Was wir brauchen, ist … ein Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens.“ Antonio Gramsci

1939 ist Wichita Falls noch nicht lange nur ein Endbahnhof mit Verladestation für den Viehtrieb in Nordtexas. Der Bau des ersten Wolkenkratzers in Texas endete vor Ort als Schildbürger:innen-Posse. Dem Tycoon John G. Hardin verdankt sich immerhin eine Hochschule. „Den Enkeln der Pioniere“ öffnen sich die Pforten von Academia fern der traditionsreichen Universitäten an der Ostküste.

„John Gresham Hardin wurde am 26. August 1854 in Tippah County, Mississippi, geboren … 1875 begleitete er seinen Vater zu einem Besuch in Johnson County, Texas, und entschied sich dafür, für den Rest seines Lebens im Bundesstaat zu bleiben … 1879 zog Hardin mit seiner Familie in das nördliche Clay County (später Wichita County).“ Quelle

1922 gründet der christlich gesteuerte Philanthrop das Wichita Falls Junior College (heute Midwestern State University). Für die Leidtragenden der großen Depression zählt der studentische Aufmarsch der alltäglichen Unterhaltung. „Die Staubstürme, die durch (die Gegend fegen, haben) die Farbe von schmutzigem Rotz.“

Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – ‚Stoner‘ und das Leben des John Williams - Auf den Spuren des Schriftstellers John Williams“, Biografie, auf Deutsch von Jochen Stremmel, dtv, 26,-

Zu jenen, die dem bodenständigen Cowboystyle modischen Eigensinn entgegentragen, gehört der Sohn des Hausmeisters im Postamt. John Edward Williams (1922 -1994) flaniert mit der Extravaganz eines „englischen Junkers“ im Blazer und mit Seidenschal über die Magistrale von Wichita Falls.

John scheint aus der Art geschlagen. Seine Großeltern mütterlicherseits haben den Oklahoma Land Run von 1889 mitgemacht. Vorübergehend siedelten sie in einem First Nation „Territorium“. Ihre letzte Bleibe steht in Clarksville, Texas. Da entstand ab 1841 die erste texanische Universität, zumindest die höchste Bildungsstätte bis zum Sezessionskrieg, einschließlich der 1844 eingegliederten Clarksville Female Academy. Das Institut ging aus einer Zwergschule hervor, die der Methodistenprediger John W.P. McKenzie zunächst in privaten Räumen aufzog. Ab 1854 gab es einen regulären Unterrichtsbetrieb im McKenzie College. Quelle

Ungestört verzweifelt

Johns Erzeuger spielt keine Rolle. Nach einer Legende wurde er ermordet. Der Chronist findet die Version unplausibel. Fest steht, dass Johns Mutter Amelia sich als Witwe mit Kind in Wichita Falls präsentiert, bis sie den trinkenden Taugenichts George Clinton Williams heiratet. Das Paar vagabundiert unter prekären Bedingungen, bevor es sich auf der Farm von Amelias Eltern niederlässt, wo bereits eine weitere gescheiterte Verwandte untergeschlüpft ist.

John übernimmt den Familiennamen seines Ziehvaters, der ihn nicht adoptiert. Williams fällt dann doch noch auf die Füße. Als Hausmeister kommt er zu einem passablen Auskommen.

„Kalte Gewalt ohne Wut“

Die Angehörigen schweigen sich an. Einmal setzt sich Amelia in einen Schrank, um wenigstens für eine Weile ungestört verzweifelt zu sein. Mutter und Sohn stürzen sich auf Pulp-Stories von einem idealisierten Westen. Shields erwähnt Zane Grey, mit dem auch ich durch meine Kindheit galoppierte. Rätselhaft erscheint die Langlebigkeit platter Darstellungen. John reagiert zumal auf „die kalte Gewalt ohne Wut“ in Western - „der üblichen Matinee-Kost“. „Mit Whiskey korrigierte Buttermilch“ möbelt ihn auf.

Johns Begabung wird früh bemerkt. Bereits als Schüler erfährt er Anerkennung. Er ergeht sich in immer neuen Varianten der Selbstinszenierung.

*

Sechs Monate nach der ersten Begegnung heiratet Williams im April 1942 die angehende Lehrerin Alyeene Rosida Bryan. Ein Jahr später steckt er als Soldat im Krieg. Er dient an der indisch-tibetanischen Grenze im Assam-Tal. Seine Einheit versorgt Truppen des chinesischen Generals Chiang Kai-shek mit Nachschub. Im Übrigen herrscht Hungersnot. Die Entkräftigten sterben auf den Straßen. Ihre Leichen bleiben liegen.

Als Bordfunker erleidet Williams einen Alltag am Gefrierpunkt. Um Gewicht zu sparen, fliegen die Maschinen ohne Heizungen. Eine japanische DJane rät den Besatzungen im Radio zur Umkehr. Die amerikanischen Soldaten nennen die Kassandra aus dem Land der aufgehenden Sonne „Hanoi-Hannah“. Auch zu ihr bald mehr. 

Aus der Ankündigung

Wer war der Mann, der den perfekten Roman schrieb? 

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb, John Williams gilt heute als Ikone der modernen amerikanischen Literatur. Aber wer war dieser große Autor, der erst weit nach seinem Tod berühmt wurde?  Wie viel hatte der Universitätsdozent aus Denver mit ›Stoner‹ gemein? Wieso hat ein feinsinniger Intellektueller wie Williams einen so abgründigen »Western« wie ›Butcher’s Crossing‹ verfasst? Was hat es mit Williams’ Bemerkung auf sich, sein einziges autobiographisches Buch sei der Roman über Kaiser ›Augustus‹? Und warum hat er sich von seinem berührenden Debüt ›Nichts als die Nacht‹ später distanziert?  Charles J. Shields legt die erste Biographie über John Williams vor. Packend wie Williams’ Romane schildert Shields dessen karge Kindheit in Texas, seine Passionen, seine vier Ehen und seinen intellektuellen Weg.

Zum Autor

Charles J. Shields, geboren 1951, ist Autor erfolgreicher Biographien, u.a. von Harper Lee, Kurt Vonnegut und John Williams.

Zum Übersetzer

Jochen Stremmel, geboren 1948, wurde 1982 mit einer Arbeit über Karl Kraus promoviert. Zunächst zehn Jahre Dozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln, wurde er 1990 freiberuflicher Lektor und Übersetzer aus dem Englischen, u. a. von Elmore Leonard, Charles Willeford, Ross Thomas, Stephen King und Scarlett Thomas.