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2022-11-09 07:42:51, Jamal

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Die Räude verlorener Kaufkraft

Lange war Irland das Armenhaus Europas. Hunger dezimierte die Bevölkerung im Kahlschlagmodus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkurrierten irische Migrantinnen und Migranten in den USA mit den soeben aus der Sklaverei entlassenen Schwarzen. Die irische Diaspora sprengte den europäischen Referenzrahmen. Im 21. Jahrhundert drehte sich das Rad. Der keltische Tiger boomte mit atemberaubenden Wachstumsraten. 

Irland präsentiert sich als Steueroase. Facebook und Google nutzen die Vorteile.   

Dann brach die Wirtschaft ein, und die Tigerinnen und Tiger befiel die Räude verlorener Kaufkraft. Der Mittelstand suchte seine Knochen zwischen Stagnation, Illusion und Depression zusammen. Paare, die sich auf der Geldseite halten konnten, lebten in Geistersiedlungen mit verrottenden Rohbauten und fertiggestellten, aber nicht bezogenen Häusern in der Nachbarschaft.

Danielle McLaughlin, „Die Kunst des Fallens“, Roman, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand, 363 Seiten, 22,-

In diesem Reizklima klappert Nessa McCormack über ihren Alltagsparcours rund um Cork. Die maritime Idylle liefert vielen Szenen ein Kolorit mit Salzprise. Nessa belastet nicht zuletzt ein - von ihrem leichtherzigen und sprunghaften Mann Philip mit lauter geplatzten Immobiliengeschäften angehäufter - Schuldenberg. Sie geht auf Partys, wo sich Leute treffen, die hoffen, dass der Pleitekelch an ihnen vorüberzieht. Über eine Gastgeberin urteilt Nessa, sie besäße „die Sozialkompetenz einer Nacktschnecke“. So kritisiert Nessa eine Autorin im ewig sich hinziehenden Entpuppungsstadium. Olga Fogarty wohnt mit ihrem Mann, einem Bankenanwalt, in einem von enttäuschten Erwartungen traumatisierten Kiez.

Nessa entzieht sich dem enervierendem Küchengeplauder in den Garten. Ein Mann folgt ihr. Ohne Vorlauf wird er unangenehm. So lernt Nessa Richard Wilson kennen. Dessen Frau Cora war Philips Geliebte. Die beiden stecken immer noch unter einer Kommunikationsdecke. Das widerspricht einer Verabredung, die Nessa und Philip getroffen haben.

Danielle McLaughlins Erzählmacht offenbart sich, als Nessa begreift, dass sie in einen zumindest halbwegs wohlwollenden Komplott verstrickt wurde. Wegen ihr musste Cora, obwohl Cousine von Olga, zuhause bleiben.

„Cora Wilson war aus dem Spiel genommen worden, ihre Abwesenheit wirkte sich jedoch auf das Verhältnis aller anderen Spielfiguren aus.“

Im Reißwolf der Zeit

Philip dilettiert als Architekt. Man nimmt ihn als umgänglichen Zeitgenossen wahr. Das hat es ihm leicht gemacht, seine Familie zu ruinieren.

Nessa brilliert als Kuratorin. Sie betreut das mit öffentlichen Mitteln kanonisierte Werk des verstorbenen Bildhauers Robert Locke. Niemand steckt tiefer in der Materie als Nessa. Die Deutungswurmfortsätze eines jeden biografischen Splitters und Genese-Fadens sind ihr geläufiger noch als der gralshütenden Witwe Eleanor und deren Tochter Loretta. Die Kunsthistorikerin ist mit dem Œuvre von Robert Locke so verwurzelt und verzahnt, dass sie damit ihr erotisches Register anreichert. In ihren Phantasien schwankt sie zwischen dem Künstler als jungem Mann und einem jungen Wachmann, den sie an ihrem Arbeitsplatz sieht.

Nessas Büro liegt am Lavitt‘s Quay im Zentrum von Cork. Nessa genießt die Aussicht auf den River Lee, der unweit in die Keltische See fließt. An einem äußersten Punkt des Blickfeldes schimmert die Glasfront des Opernhauses.

Eines Tages ruft Stuart Harkin an. Mit ihm betrog Nessa einst ihre beste Freundin, die vielleicht deshalb Selbstmord beging. Nun warnt Stuart die Komplizin mehr als einer krummen Sex-Tour vor kompromittierenden Briefen aus Amys Nachlass, die seinem und Amys Sohn Luke zugespielt wurden. Vernichtende Urteile, die Nessa im Vollrausch ihrer Jugend fällte: leider nicht geschreddert im Reißwolf der Zeit. Einige Heruntergeputzte bewegen sich in Reichweite.

Nessas Unbehagen in Anbetracht nun doch nicht verjährter Anmaßungen und Ausbrüche ist mit Händen zu greifen. Ihre Fortsetzungen der Affäre mit Amys Witwer als verheiratete Frau kommen aufs Tapet. Einmal war Stuart ihr in London begegnet, kurz nach Fertigstellung des Millennium Wheels, dessen Anblick zu der sensationellen Aussicht gehörte, die das Hotelzimmer bot, in dem Nessa abgestiegen war. Sie schlief mit Stuart in einem Raum, den ihr Mann mit verheimlichten Absichten, die über den avisierten Wochenendtrip hinausgingen, gebucht hatte. Nessa musste erst einmal verkraften, dass der Kurzurlaub für Philip nur Nebensache gewesen wäre. Nach dem Wegfall der geschäftlichen Hauptsache, fehlte ihm sogar der Antrieb zur Wahrung des Scheins.

Aus der Ankündigung

Eine Frau in der Krise – die irische Autorin erzählt vom ganz normalen Leben, von den kleinen Dramen, die große Wirkung haben, von verletzten Gefühlen, versteckten Lügen, unerfüllten Sehnsüchten. Und wie leicht ein Leben aus den Fugen geraten kann, auch wenn man glaubt, alles ganz gut unter Kontrolle zu haben. Nessa McCormack will nach einer Affäre ihres Mannes ihre Ehe retten, ihre Tochter ist im kompliziertesten Teenageralter, und sie steht am Höhepunkt ihrer Karriere: Sie kuratiert eine Ausstellung über den kürzlich verstorbenen Robert Locke, einen Bildhauer, den sie noch persönlich kannte und verehrte. Doch plötzlich taucht eine Frau auf, die hartnäckig behauptet, die wahre Schöpferin von Robert Lockes berühmtester Skulptur zu sein. Und dann droht auch noch eine längst verdrängte Lüge aus Nessas Vergangenheit ans Licht zu kommen … 

Zur Autorin

Danielle McLaughlin hat als Rechtsanwältin praktiziert, bevor sie mit 40 Jahren zu schreiben begann. Ihre Geschichten wurden in The New Yorker, The Irish Times, The Stinging Fly und verschiedenen Anthologien veröffentlicht, sie gewann u.a. die William Trevor/Elizabeth Bowen International Short Story Competition und den Willesden Herald International Short Story Prize. Ihr Erzählungsband »Dinosaurier auf anderen Planeten« kam 2015 auf die Shortlist der Irish Book Awards Newcomer of the Year und wurde 2019 mit einem der höchstdotierten literarischen Preise weltweit ausgezeichnet, dem Windham-Campbell Prize. »Die Kunst des Fallens« kam 2022 auf die Shortlist des Dublin Literary Award. Danielle McLaughlin lebt im County Cork, Irland.