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2022-11-02 07:17:28, Jamal

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Vom Gott zum Gatten

„Das Altern ist der langsamste Prozess, den der Mensch kennt - und doch, wie plötzlich ist mein Leib alt geworden.“ John Burnside

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„Ein wesentlicher Teil der Verwesung findet statt, bevor wir tot sind.“ Corinna T. Sievers

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Der lange alltägliche Abstieg vom Gott zum Gatten ist ein Klacks gegen den finalen Abstieg vom Arzt zum Autor. Nach einem OP-Versagen erleidet der Chirurg Bernard Rohr einen sozialen Schlaganfall. Auf den letzten Metern seines Lebens verpasst Rohr die Abzweigung in die Bescheidenheit. Stattdessen haut der bald Siebzigjährige einen Arztroman mit dem aufrauschenden Titel „Propofol“ raus.

Sozialer Schlaganfall

Seine Droge ist das titelstiftende Narkosemittel. Michael Jackson, der polytoxikoman an einem Mix aus Propofol, Alkohol und Valium starb, nannte das Anästhetikum „seine Milch“. Bernard Rohr, unehrenhaft entlassener Chefchirurg/stellvertretender Kinderherzchirurgie-Fachschaftsleiter der Berliner Universitätskliniken, sprich Charité, erlebt die Wirkung als rauschfreies Glück. Rohr, der seinen Vornamen französisch ausspricht und sich für eine Haartransplantation nicht zu schade war, verminderte mit Propofol jahrelang die Amplituden zwischen den Hochgefühlen eines im Operationssaal gottgleich Waltenden und der Niedergeschlagenheit in den Niederungen des Familienlebens.

„Die kritische Marke von 0,5 Milligramm Propofol pro Kilogramm Eigengewicht ist unbedingt einzuhalten.“

Corinna T. Sievers, „Propofol“, Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 254 Seiten, 24,-

Lange laborierte Rohr an der beschussartigen Dominanz weiblicher Geschlechtssignale an seinem Arbeitsplatz. Die Autorin führt die Not aus. Sie schildert eine Dauerkrise, die unter wechselnden Vorzeichen stattfindet. Von der Erektion zur Erektionsstörung. Zwischen den Polen Begehren und Potenz erstreckt sich eine ausufernde, misogyn vermessene Brache. Die Prostata dehnt sich, während der Rest schrumpft.

Grausam nennt Rohr das, was „die Zeit mit dem Liebreiz von Frauen macht, er wird nicht nur vernichtet … aus der pheromonischen Anziehungskraft wird eine ebenso starke chemische Abstoßung“.

An die Stelle der Ehefrau, die Rohr bei jeder Gelegenheit kaltstellte, unterminiert ihn eine Geliebte. Rohr fürchtet Tinas Zorn.

Sievers bis auf die Knochen diskreditierter Held, ein Hashtag-Kandidat erster Güte, unterscheidet sich von anderen Halbgreisen markant, insofern er im kollektiven Gedächtnis die Rolle eines süchtig-delinquenten Mediziners spielt. Ein Augeninfarkt beendete die Karriere im Operationssaal. Eine Prozesslawine vergrub Rohrs Reputation.   

Rohr versagte bei dem Trennungsversuch der kongolesischen Siamesischen Zwillinge Agathe und Alma Lubaki.

In ihrem Fall schlug ein Herz für zwei Personen.

In der Umgebung des klinischen Geschehens ergaben sich Überlegungen zu den Themenkreisen Postkolonialismus und Vampirismus. Während Koryphäen den Eltern der Zwillinge wenig schonend beibrachten, dass eine Tochter die Operation nicht überleben würde, wurde „ein Wägelchen mit Kaffee und Kuchen in den Saal geschoben“.

So gestalten sich lichte Momente im Roman. Die Pointe aus einem schlichten Gegensatz kontrastiert viele Zuspitzungen. Herausgeschleudert aus seiner Zuständigkeit, kapituliert das Ehepaar Lubaki vor dem Dilemma-Everest. Die Alternativen sprengen die Kategorien der Eltern. Wie ein Eber bricht Rohr durch das Unterholz ethisch-juristisch-medizinischer Abwägungen. Er kapriolt und kollabiert beinah in seiner persönlichen Götterdämmerung.  

In der Handlungsgegenwart ist Rohr all das nicht mehr, was ihn so lange privilegierte. Er residiert nicht mehr in einer Villa, sondern haust in einem „Studio“. Besonders vermisst der Abservierte ein im Besitz seiner Ex-Frau verbliebenes, mit dem N-Wort im Titel behaftetes Werk von Sigmar Polke.

Rohr memoriert und räsoniert in einer Manier, die man früher Casino-Jargon nannte; damals als man seinen Schneid mit Schmissen zur Schau stellte. So ein Dinosaurier ist Rohr, dass selbst der sprichwörtliche Alteweißemann bei aller Erbärmlichkeit im Vergleich zu ihm entwicklungsfähig und schuldeinsichtig erscheint.

Aus der Ankündigung

Bernard Rohr ist erfolgreicher Chefchirurg in einer Berliner Kinderklinik. Kurz vor seinem 65. Geburtstag soll er siamesische Zwillinge trennen, deren komplizierte Anatomie eine besondere chirurgische Herausforderung darstellt. Eine erfolgreich durchgeführte Operation würde ihn weit über die Grenzen Deutschlands berühmt machen. Doch es gibt ein Problem: Rohr ist auf das Narkosemittel Propofol angewiesen, um stundenlange Eingriffe durchzustehen, und auch im Privatleben soll es ihm gewisse Dienste erweisen. Ohne es wahrhaben zu wollen, hat er sich immer weiter von einem normalen Arbeits- und Familienleben entfernt. Im Operationssaal kommt es zu einem Ereignis, durch das sein Leben eine schicksalhafte Wendung nimmt. Corinna T. Sievers zeigt in ihrem neuen Roman in analytisch offener Weise die Hybris eines älter werdenden Mannes und das langsame Abdriften eines ›Halbgottes in Weiß‹, der mithilfe einer Droge seine männliche Selbstüberheblichkeit aufrechtzuerhalten versucht, und daran scheitert.

Zur Autorin

Corinna T. Sievers, geboren auf der Ostseeinsel Fehmarn, lebt bei Zürich. Die Autorin studierte Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften, Medizin und Zahnmedizin. Doktorarbeit über die Prognostizierbarkeit von Schönheit. Ihr erster Roman, »Samenklau«, erschien 2010 in der Frankfurter Verlagsanstalt, 2016 folgte der Roman »Die Halbwertszeit der Liebe«. Beim Bachmann-Bewerb 2018 in Klagenfurt las sie einen vielbeachteten Auszug aus »Vor der Flut«.