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2022-07-16 08:14:47, Jamal

Sowjet Swing der Diversity

„Zitate warten, dass die Erinnerung sie hervorholt.“ Jürgen Becker

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„Narratives Denken bietet einen echten Überlebensvorteil.“ Fritz Breithaupt

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„(Der Kirschgarten) war Tschechows letztes Meisterwerk, eine Feier des Lebens, während er selbst an Tuberkulose starb.“ Kristina Gorcheva-Newberry

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Sehen Sie hier.

Sowjetisches Fin de Siècle

Anja Ranewa erlebt ihre beste Freundin Milka Putowa als „verfeinerte Version“ ihrer selbst. „Sie (ist) wie mein anderes (ideales?) Ich, dünner und klüger.“

Anja Ranewa? Sie haben richtig gelesen. In Anspielung auf Tschechows „Kirschgarten“ heißt Kristina Gorcheva-Newberrys großartiger Debütroman im Original „Der Obstgarten“. Tschechows Gutsbesitzerinnentochter Anja Ranjewskaja erscheint als Repräsentantin der Generation Perestroika. Die UdSSR erodiert, während Anja und Milka pubertieren. Selbstverständlich kann sich kein Mensch vorstellen, wie rasch die Sowjetunion einen Endpunkt erreichen wird. Die Ordnung der Dinge bleibt unverrückbar, selbst wenn es gar keine Dinge mehr gibt.

„Plötzlich gab es kein Toilettenpapier mehr … (und) keine Streichhölzer oder sonstige lächerliche Kleinigkeiten.“

Kristina Gorcheva-Newberry, „Das Leben vor uns“, Roman, C.H. Beck, 359 Seiten, 25,-

Kompost und Kompott

Gorcheva-Newberry erzählt ihre Geschichte so, dass man noch ein paar Mal auf den „Kirschgarten“ zurückkommt. Ihr Garten umgibt, fern der Moskauer Wohnung, eine Datscha; in einer Datschenkolonie, zu der Wege führen, die im Winter kaum passierbar sind. Anja und ihre Leute, die Mutter ist Raumfahrtingenieurin, der Vater Raumfahrtingenieur, die Großmutter Überlebende des Leningrader Grauens, ernten vor allem Äpfel. Alle sind mit dem Einkochen beschäftigt. Alles riecht nach verarbeitetem Obst.

Das Wasser muss aus dem Brunnen geholt und auf dem Herd heißgemacht werden. Die Arbeit ist ohne Ende in unmodernen Abläufen.

Die Eltern der Heranwachsenden repräsentieren auch noch als Ungläubige eine Ideologie, die ihre Argumente im II. Weltkrieg findet. Das Überleben selbst war eine solche Ungeheuerlichkeit, wir reden von siebenundzwanzig Millionen Toten, das sich aus dem gigantischen Blutzoll eine kommunistische Eschatologie ergibt, die in jeder Familie nach- und vorgebetet wird und sei es in der kompletten Abrede.

Der Handlungsgegenwart liefert Leonid Iljitsch Breschnews (1906 - 1982) letztem Herrschaftsmoment eine nurmehr maulwurfhügelige Marke. Der aus dem ukrainischen Kamjanske (früher Dniprodserschynsk) gebürtige KPdSU-Generalsekretär hatte auf Zeit gespielt und auf ein Wunder in seinem an allen Ecken und Enden einknickenden Staatenbund gehofft.

Übrigens war Breschnew der erste Apparatschik im höchsten Amt ohne oktoberrevolutionäre Vergangenheit. Der undurchsichtige KGB-Chefagent Juri Wladimirowitsch Andropow löst ihn ab. Der neue starke Mann gibt Anja und Milka Rätsel auf. Die Freundinnen schreiben US-Präsidenten Ronald Reagan einen Brief im Geist der Völkerverständigung. Milka beschenkt Anja fürstlich mit einem Freddie Mercury-Poster.  

Gorcheva-Newberry zeichnet sowjetische Verwerfungslinien nach. Der Scheißkapitalismus klebt am sozialistischen Profil. Er penetriert ein Weltbild, dass lange hermetisch war. Anja und Milka machen sich pausenlos lustig über ihren Staat. Gleichzeitig sehnen sie sich nach gesellschaftlichen Gewissheiten.

Pompös begehen sie ihre Jubiläen. Anja investiert mehr als ein „Monatsbudget“ in die Vergoldung von Milkas Geburtstag. Eis satt im Café Kosmos, eine seit 1935 bestehende Gastro-Legende gleich neben dem Metrohalt (der Tagansko-Krasnopresnenskaya-Linie) Barrikadnaya.

“Kosmos Kafé in Moscow, one of the world’s coolest Cafés.” Quelle

Als wäre das nicht bereits opulent genug in einer Mangelgesellschaft, hat Anja außerdem zwei Kinokarten vom Schwarzmarkt ergattert - für einen amerikanischen Film, der nur in einem einzigen Moskauer Kino gezeigt wird.

Sie sehen Tootsie.

„Das wir Tootsie liebten, war eine Riesenübertreibung.“

Milka macht Anja einen Heiratsantrag. Den Hintern der Freundin findet sie „königlich“. Zieht man das auf eine Linie mit Freddie Mercury, dann erahnt man den Sowjet Swing der Diversity.

Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden - in einem Staat kurz vor dem Zerfall? Dieser Roman verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und erzählt dabei von einer unerschütterlichen Freundschaft zweier Mädchen zwischen Unsicherheit und Aufbruch.
Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. «We Are the Champions» ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Aber Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind.   

Zur Autorin

Kristina Gorcheva-Newberry wuchs in Moskau auf, studierte dort an der Staatlichen Linguistischen Universität und arbeitete anschließend als Lehrerin und Dolmetscherin, bevor sie in die Vereinigten Staaten emigrierte, wo sie außerdem Englisch und Kreatives Schreiben studierte. Ihre Kurzgeschichten wurden mehrfach ausgezeichnet, «Das Leben vor uns» ist ihr erster Roman.