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2022-03-19 07:05:43, Jamal Tuschick

Blutiger Dollar

Mely Kiyaks Induktionen faszinieren Europa und die Welt. Oft erscheinen die Transporter der Induktionen, die Kolumnen, auf den ersten Blick so reißerisch wie antike Kinoplakate. Sie haben Standpauken- und Brandreden-Signaturen, die Impulskontrollverluste suggerieren, als gingen mit der Autorin stundenlang die Pferde durch; als ließe sich eine besonders Temperamentvolle dafür feiern, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Das ist Camouflage. Kiyaks Stärke ist die Analyse von hinten durch die Faust ins Auge. Ihre Texte werfen Fragen auf. Ich nehme eine vorweg. Befreit einen Künstler die Kunst von allen Übeln? Wer ist er, wenn er die Schmauchspuren auf seinen Honorardollars ignoriert? - Da ein Waffenproduzent sich mit seiner Kunst schmückt.

Erreichbar für die Beschwerden der Welt - Einmal um die Welt im Kolumnenlaufrad von Mely Kiyak

„Leute, wir müssen wütender werden.“

Als Mely Kiyak 2021 den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik unter anderem für ihre Tätigkeit als Kolumnistin erhielt, formulierten die Entscheider:innen namentlich Doris Akrap, Zoë Beck, Ulrich Janetzki, Stuart Parkes und Nikola Richter:

„Mely Kiyaks Stil, ihre Qualität, ihre Vielfalt, ihre Schärfe und ihr Witz sind nicht nur unverwechselbar, sondern in Ausdauer, Klarheit, Ernsthaftigkeit, Mut, Einsatzbereitschaft und Klugheit unbestechlich. [...] Mely Kiyaks Texte sind so fein gearbeitet, dass man sie die Seidenstickerin unter den Kolumnisten nennen könnte.“

Die Autorin selbst definierte ihre Kunst so: „Eine Kolumne ist wie eine Zwiesprache ohne Gegenüber und die am meisten journalistische aller literarischen Gattungen.“

Mely Kiyak, „Werden sie uns mit FlixBus deportieren?“, Kolumnen, Hanser, 20,-

Man müsse sich von „Diskurssprache“ freimachen, um Kolumnen so schreiben zu können. Die Kolumnistin behauptet erkennen zu können, ob jemand auch liest oder nur schreibt. Ihre Texte sind jedenfalls Lektüre-Derivate.

Kiyak unterscheidet zwischen jenen, die „erreichbar bleiben für die Beschwerden der Welt“ und den anderen. Sie verehrt Thomas Bernhard und nimmt eine Bernhard-Jubiläumspublikation zum Anlass, um zu melden: dass „Boshaftigkeit die ehrlichste Form der Zärtlichkeit dem Leben gegenüber“ sei.

Eine Zulieferung: „Auf Goethe, den philosophischen Kleinbürger ... den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt ... und (ihre) Binsen... gebündelt hat.“

Indigene Iphigenien/Voicing Resistance

„Werden sie uns mit FlixBus deportieren?“ Der Titel spielt auf eine Kolumne an, von der es zwei Fassungen gibt. Beim Erscheinen der ersten Version notierte ich:

Worin man uns deportieren wird? Doch diesmal gewiss nicht in den Viehwagen der Deutschen Bahn. Das Gorki ist eine Art Asylheim mit Theater-AG. - Ein Scharia Schtetl mit eingemotteter Flix-Bushaltestelle, an der bei Inbetriebnahme indigene Iphigenien das Schicksal der Vergeblichkeit ereilen wird. Sie dürfen nicht mit, wenn die Deportationen in den grünen Flix-Bussen losgehen.

Tatsächlich geht die Passage in der Urschrift so:

„Diesen Sommer saß ich mit Mehmet Yilmaz, das ist der einzige bei uns im Gorki Ensemble, den sie nicht verkleiden müssen, wenn er einen Türken auf der Bühne spielt, in - na, wo wohl? - Kreuzberg im Teehaus, wo ich einen Tee für siebzig Pfennig trank, und er - war ja klar! - einen Bio-Amsel-Gangbang-Fanta-Fantasie-Shot für sieben Euro neunzig den Schluck.

Wir saßen da und ich sagte: Memo, was glaubst Du, bringen sie uns mit der Deutschen Bahn ins Lager?

Er sagte: Deutsche Bahn? Träum weiter! Die wollen, dass wir dort auch ankommen. Die deportieren uns mit FlixBus.

Ich dachte, stimmt. Die sind doch nicht blöd. Die laden sich doch nicht ’ne Million von unserer Sorte in Berlin in den ICE und in Spandau kommt dann die erste Durchsage … Unsere Leute würden noch an Ort und Stelle eine Massenschlägerei anzetteln und das Technische Hilfswerk müsste evakuieren.“

Mehmet Yilmaz - Er spielte den wütenden Künstler in Kiyaks „Aufstand“ im Rahmen der Reihe „Voicing Resistance“. Kiyak schickt in dieser Konstellation Konflikte durch Filter eines an sich laborierenden Ichs namens Bênav. Ja, Bênav war im Gezi-Park, doch passte ihm da kein Wir. Er hätte nur bei Leuten mitmachen können, die ihn schon einmal mit einer ethnischen Begründung ausgeschlossen haben. Das wäre nicht das Richtige gewesen - mit den Falschen gemeinsam Angst zu haben. Bênav exponiert die Angst: „Du gehst raus und hast Angst.” Er fürchtet: „Rümbrüllen, das sieht doch nicht aus.”© Jamal Tuschick

Unschuldige Mittäterschaft

In dem 2021 erschienenen Werk „Frausein“ schreibt Kiyak:

„Was es über uns (die Einwanderinnen und Einwanderer) zu berichten gab, wurde fremderzählt.“

Als Heranwachsende studierte Kiyak Spielarten ihrer Objektivierung. Sie erlebte haarsträubende Zuschreibungen, die ohne den leisesten Zweifel daherkamen.

Kiyak kartografiert den Grand Canyon zwischen der Weltliteratur und den „Literaturen der Welt“. Sie beleuchtet eine heimliche Herabsetzung. Der Begriff „Literaturen der Welt“ erfasst Werke, „die nicht zum westeuropäischen und amerikanischen Kanon gehören“. Die stigmatisierende Markierung findet da ihre fleißigsten Propagandist:innen, wo sich alle so weit wie nur möglich weg wähnen vom Ressentiment: bei ihrem Karneval der Kulturen. Eine weitere, gern übersehene Segregation ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen der Heimathermetik eines Martin Walsers und den Werken der im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ethnisch differenten Schriftsteller:innen.

„Migrantenliteratur ist die unansehnliche, pummelige Cousine aus dem Zonenrandgebiet der echten deutschen Literatur.“

*

„Meine Biografie ist auf viele Kulturen und Muttersprachen verteilt.“

*

2013 besucht Kiyak die Istanbul Biennale. Sie konzentriert sich auf eine konservierte Lecture-Performance von Hito Steyerl. Darin verfolgt die Künstlerin die Laufbahn eines Projektils, das im ostanatolischen Van verschossen wurde. „Genau an jener Stelle hält sie die Hülse in die Kamera, an der sich die Spur ihrer Freundin und späteren PKK-Kämpferin Andrea Wolf 1998 verlor.“

Steyerl bestimmt die Relation von Kunst und Kapital als einem Verhältnis von Spielraum und Munitionskammer. Die Hauptsponsorin der Biennale, die in Waffengeschäfte involvierte Koç Holding, ermöglicht eine Schau, die den „Widerstand im öffentlichen Raum“ künstlerisch auslotet. Kiyak erkennt, dass der Krieg gegen die Kurden „den Broterwerb jedes Künstlers dieser Biennale“ sichern hilft.

„In den Finanzkreisläufen hinter der Biennale (sind) Dissidenten und Mitläufer, Künstler und Zuschauer, Täter und Opfer miteinander verwoben. Wer hätte da noch Interesse, dass der Krieg beendet wird?“

Ich gebe das so ausführlich wieder, weil mich Kiyaks Induktionen faszinieren. Oft erscheinen die Transporter der Induktionen, die Kolumnen, auf den ersten Blick so reißerisch wie antike Kinoplakate. Sie haben Standpauken- und Brandreden-Signaturen, die Impulskontrollverluste suggerieren, als gingen mit der Autorin stundenlang die Pferde durch; als ließe sich eine besonders Temperamentvolle dafür feiern, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Das ist Camouflage. Kiyaks Stärke ist die Analyse von hinten durch die Faust ins Auge. Ihre Texte werfen Fragen auf. Ich nehme eine vorweg. Befreit einen Künstler die Kunst von allen Übeln? Wer ist er, wenn er die Schmauchspuren auf seinen Honorardollars ignoriert? - Da eine Waffenproduzentin sich mit seiner Kunst schmückt.

Unschuldige Mittäterschaft

In der kurdischen Metropole Diyarbakır, so Kiyak, existierte „vor 1915 die größte armenische Gemeinde“. Heute leben nur noch „etwa 55 Armenier“ in der Stadt.

Kiyak fragt: „Können wir (den armenischen Genozid) aufrichtig beklagen, wenn wir unter Umständen davon profitiert haben? … Profitieren wir als Familienangehörige von den Grundstücken, den Tälern und Feldern, den Häusern, die die Armenier hinterließen? … In einem dieser alten armenischen Häuser lebt eine … Familie, sie sind sunnitische Kurden. Ein Spross der Familie ist ein Dichter geworden. Seine ganze Kraft legt er in den Widerstand gegen die türkische Politik … angesprochen darauf, dass er in einem alten Haus wohnt, aus dem Armenier vertrieben wurden, schaute er erstaunt und verstand nicht sofort, worauf ich hinaus wollte.“

Das ist Kiyaks Kunst und Stärke. Die Autorin zeigt, wie heimtückisch das Schlechte verteilt, wie brüchig jede Position ist. Der kurdische Kulturkämpfer übersieht ein Unrecht, aus dem sich seit hundert Jahren Vorteile für seine Familie ergeben. So wie der Künstler, der seinen Karriere-Booster als Biennale-Star (und weitere Annehmlichkeiten) einem mit Rüstungsgütern erwirtschafteten, sich mit Kunst reinwaschenden Reichtum verdankt, auf das Falsche an der Sache pfeift. Er ignoriert die Blutspur, in die er hineintritt und die er im Geist der alten weißen Privilegien verlängert.

*

„Was der Künstler … erzählt oder verschweigt, ist immer die Wahrheit, nämlich seine.“

Aus der Ankündigung

„Je leichtfüßiger, amüsanter und Leckt-mich-am-Arsch-hafter du schreibst, desto mehr drehen die Leute durch. Ich nenne es gefährlich schreiben.“

Mely Kiyak ist die Meisterin der literarischen Weltbetrachtung. Schonungslos und aufrichtig entlarvt sie das Desaströse, Politische und Dramatische in der Gegenwart. Wo sie ist, gibt es keinen Safe Space.
Die „Frau mit der beängstigenden Intelligenz und ozeanischen Zärtlichkeit“ (Milo Rau) hat eines der umfangreichsten Kolumnenwerke der deutschen Literatur geschaffen. Mit grausamem Scharfsinn und prächtigen Pointen munitioniert die „Seidenstickerin unter den deutschen Kolumnistinnen“ (Jury des Kurt-Tucholsky Preis) ihren künstlerischen Widerstand. Immer in wilder Hoffnung auf Glamour, Witz und Menschlichkeit. Erhellend, erheiternd, erschütternd.